Sorge um Menschenrechtsanwalt

Porträt von Yu Wensheng

Der chinesische Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng (undatiertes Foto)

Am 27. Dezember 2020 wies das Oberste Volksgericht der Provinz Jiangsu die Rechtsmittel von Yu Wensheng zurück, die der Menschenrechtsanwalt gegen den gegen ihn verhängten Schuldspruch eingelegt hatte. Er war im Juni 2020 wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" in einem geheimen Verfahren zu vier Jahren Gefängnis und einem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt worden. Nach fast drei Jahren ohne Zugang zu seiner Familie konnte Yu Wensheng am 14. Januar 2021 endlich mittels eines Video-Calls mit seiner Frau Xu Yan sprechen. Nach dem Gespräch äußerte sich diese äußerst besorgt über die offensichtliche Verschlechterung des Gesundheitszustands von Yu Wensheng.

Appell an

Director Yin Zhaoming

Xuzhou City Detention Centre

206 Guodaodongze,

Sanbao Zhen Nan, Tongshan Qu

Xuzhou Shi, Jiangsu Sheng, 221112


VOLKSREPUBLIK CHINA

Sende eine Kopie an

Botschaft der Volksrepublik China

S. E. Herrn Ken Wu

Märkisches Ufer 54

10179 Berlin


Fax: 030-27 58 82 21

E-Mail: presse.botschaftchina@gmail.com

 

Amnesty fordert:

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass Yu Wensheng regelmäßigen und uneingeschränkten Zugang zu angemessener Ernährung und medizinischer Versorgung erhält. Er muss umgehend ärztlich behandelt werden.
  • Sorgen Sie bitte außerdem dafür, dass er bis zu seiner Freilassung regelmäßigen und uneingeschränkten Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl und seinen Angehörigen erhält. Er soll weder unter mangelhaften Haftbedingungen noch unter Folter und anderen Misshandlungen leiden.
  • Bitte lassen Sie Yu Wensheng umgehend und bedingungslos frei, da er sich nur in Haft befindet, weil er das Recht auf freie Meinungsäußerung friedlich ausgeübt hat.

Sachlage

Der Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng (余文生) war im Juni 2020 wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" (动颠覆国家政权罪) in einem geheimen Verfahren zu vier Jahren Gefängnis und einem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt worden. Seit seiner ersten Festnahme 2018 hat sich sein Gesundheitszustand aufgrund der schlechten Haftbedingungen dramatisch verschlechtert. Yu Wensheng hatte berichtet, dass er gefoltert und anderweitig misshandelt wurde.

Nachdem Yu Wensheng drei Jahre lang keinen Zugang zu seinen Angehörigen hatte, wurde ihm am 14. Januar 2021 endlich ein Videogespräch mit seiner Frau Xu Yan gewährt. Diese Entwicklung kann zwar als gutes Zeichen gewertet werden, doch das Gespräch dauerte nur 25 Minuten – fünf Minuten weniger als die übliche Besuchszeit in der Hafteinrichtung der Stadt Xuzhou. Nach dem Gespräch äußerte sich Xu Yan äußerst besorgt über die massive Verschlechterung des Gesundheitszustands von Yu Wensheng. So fehlten ihm drei Zähne und er könne seinen rechten Arm aufgrund eines Nervenschadens nicht bewegen. Er sei nicht mehr in der Lage, mit der rechten Hand zu schreiben.

Xu Yan zufolge zeigte Yu Wensheng außerdem Anzeichen von Unterernährung. Er hatte bereits im August 2020 seinem Rechtsbeistand von Nahrungsentzug berichtet – offensichtlich hat sich diese Situation seitdem nicht verbessert. Sowohl die Berichte seiner Frau als auch die Tatsache, dass Yu Wensheng bereits seit drei Jahren unter schlechten Bedingungen und Misshandlungen in der Haft leidet, sind alarmierend. Wenn sich seine Behandlung nicht verbessert, besteht Anlass zu großer Sorge, dass sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtern wird.

Yu Wensheng ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der sich nur deshalb in Haft befindet, weil er friedlich von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Er ist nicht nur zu Unrecht inhaftiert, er wird in der Haft auch unmenschlich behandelt.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Yu Wensheng ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt in Peking. Er vertrat zahlreiche Personen in öffentlichkeitswirksamen Menschenrechtsfällen. So übernahm er unter anderem die Verteidigung verschiedener Falun-Gong-Anhänger_innen und des Menschenrechtsanwalts Wang Quanzhang. Wang Quanzhang war während des harten staatlichen Vorgehens gegen Anwält_innen und Aktivist_innen im Juli 2015 wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" angeklagt worden.

Yu Wensheng wurde am 17. Juni 2020 zu vier Jahren Gefängnis und einem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt. Er hatte zuvor einen Offenen Brief geschrieben, in dem er Präsident Xi Jinping kritisierte und sagte, dieser sei wegen seiner zunehmend "totalitären" Herrschaft ungeeignet, China zu regieren. Angehörige und Freund_innen von Yu Wensheng glauben, dass seine Verurteilung mit diesem Brief zusammenhängt.

Kurz nach seiner Verurteilung hatte Yu Wensheng vor dem Obersten Volksgericht der Provinz Jiangsu Rechtsmittel gegen den Schuldspruch eingelegt. Am 27. Dezember 2020 erfuhren seine Rechtsbeistände durch ein Schreiben von der Entscheidung des Obersten Volksgerichts der Provinz Jiangsu: das Rechtsmittel wurde zurückgewiesen und das Gericht bestätigte das ursprüngliche Urteil, das eine Freilassung von Yu Wensheng am 1. März 2022 vorsieht.

Yu Wensheng soll bald in eine andere Haftanstalt verlegt werden, um seine restliche Haft zu verbüßen. Wohin ist noch nicht bekannt. Er hatte eine Verlegung nach Peking beantragt, wo sein Hukou (户口) und seine Familie sind. Das Hukou-System ist die offizielle Wohnsitzkontrolle der Bevölkerung der Volksrepublik China. Daneben gibt es die Hukou-Bücher, die Informationen wie Name, Eltern, Ehepartner oder Geburtsdatum enthalten.

Yu Wensheng gehört zu den Finalist_innen für den Martin Ennals Award 2021, einem jährlichen Preis für Menschenrechtsverteidiger_innen. Sowohl die Finalist_innen als auch die_der Preisträger_in werden von einer Jury ausgewählt, in der zehn der weltweit führenden Menschenrechts-NGOs vertreten sind. Der Preis soll Menschenrechtsverteidiger_innen, die in Gefahr sind, schützen und unterstützen.

Als sich Yu Wensheng nach mehr als 18 Monaten Haft im August 2020 endlich mit seinem Rechtsbeistand treffen konnte, erzählte er, dass er in Haft mit Pfefferspray besprüht und wiederholt dazu gezwungen wurde, so lange auf einem Metallstuhl zu sitzen, bis er fast das Bewusstsein verlor. Außerdem berichtete er von Nahrungsentzug und dass er im Sommer einen Hitzschlag erlitten habe, während er im Winter fror.

Yu Wenshengs Frau Xu Yan hat in den vergangenen drei Jahren unermüdlich für die Freilassung ihres Mannes gekämpft. Sie unternahm zahlreiche Versuche, ihren Mann zu besuchen, der 800 Kilometer von ihrem Zuhause in Peking entfernt in Einzelhaft gehalten wurde. Seit sie sich für ihren Mann einsetzt, steht Xu Yan unter ständiger Beobachtung und wird von den Behörden schikaniert. Sie wurde vorgeladen, verhört und mit einem Reiseverbot belegt.

In China werden Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen nach wie vor systematisch überwacht, schikaniert, eingeschüchtert, festgenommen und inhaftiert.