Drohende Zwangsräumung

Gianturco, Italien

Gianturco, Italien

Einer Gemeinschaft von rund 1300 rumänischen Roma droht die rechtswidrige Zwangsräumung aus der informellen Siedlung Gianturco im süditalienischen Neapel. Etwa 200 von ihnen werden von der Gemeinde in ein neues, abgetrenntes Lager in Via del Riposo umgesiedelt. Den übrigen Menschen droht die Obdachlosigkeit. Die städtischen Behörden haben bisher keine wirkliche Konsultation durchgeführt, um angemessene Alternativunterkünfte zu finden.

Appell an

BÜRGERMEISTER VON NEAPEL
Luigi de Magistris
Comune di Napoli, Palazzo San Giacomo
Piazza Municipio
80133 Napoli
ITALIEN
(Anrede: Dear Mayor / Sehr geehrter Herr Bürgermeister)
Fax: (00 39) 08 1795 5002
E-Mail: urp@comune.napoli.it

INNENMINISTER
Marco Minniti
Ministero dell’Interno, Piazza del Viminale 1
00184 Roma
ITALIEN
(Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Innenminister)
Fax: (00 39) 06 4654 9832
E-Mail: segreteriatecnica.ministro@interno.it

Sende eine Kopie an

BOTSCHAFT DER ITALIENISCHEN REPUBLIK
S. E. Herrn Pietro Benassi
Hiroshimastr. 1-7
10785 Berlin
Fax: 030-2544 0116 oder 030 2544 0130
E-Mail: segreteria.berlino@esteri.it oder
consolare.berlino@esteri.it

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Italienisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 3. Mai 2017 keine Appelle mehr zu verschicken.

Amnesty fordert:

FAXE, E-MAILS UND LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Sorgen Sie bitte dringend dafür, dass die rechtswidrige Zwangsräumung ausgesetzt wird, und führen Sie eine wirkliche Konsultation der betroffenen Roma durch, um alle alternativen Unterkunftsmöglichkeiten auszuloten und so sicherzustellen, dass niemand nach der Räumung obdachlos wird.

  • Sorgen Sie bitte dafür, dass die Umsiedlungspläne nicht zur Entstehung neuer abgetrennter Lager führen und den in internationalen und regionalen Menschenrechtsnormen und -standards und der Nationalen Strategie zur Integration der Roma vorgeschriebenen Standards für angemessenes Wohnen entsprechen.

PLEASE WRITE IMMEDIATELY

  • Urging the authorities to halt the eviction process until they have genuinely consulted all affected Roma to explore all feasible alternative housing options and can ensure nobody is rendered homeless following the eviction.

  • Urging the authorities to ensure that any rehousing plans do not result in the creation of new segregated camps and comply with the standards of adequate housing as outlined in international and regional human rights law and Italy’s National Strategy for Roma Inclusion.

Sachlage

Einer Gemeinschaft von rund 1300 rumänischen Roma, darunter Hunderte Kinder sowie Ältere, Kranke und Menschen mit Behinderungen, droht der unmittelbare Verlust ihrer Unterkunft (den Behörden zufolge leben 850 Personen in der Siedlung, nach Schätzungen der Gemeinschaft und von NGOs ist die Zahl jedoch höher). Aktuell leben sie in der informellen Siedlung Gianturco in der süditalienischen Stadt Neapel. Einige Familien kamen bereits 2011 nach Gianturco, nachdem die Siedlung, in der sie vorher gelebt hatten, von Unbekannten in Brand gesteckt worden war, andere Familien sind erst seit kürzerer Zeit vor Ort.

In einem Gerichtsbeschluss vom Januar 2016 wurde die Zwangsräumung der Roma von dem im Privatbesitz befindlichen Land innerhalb von 30 Tagen angeordnet. Einige Familien wurden über die Zwangsräumung informiert, viele der Bewohner_innen gaben jedoch an, nie irgendwelche diesbezüglichen Dokumente erhalten zu haben. Wie die städtischen Behörden gegenüber Amnesty International einräumten, wurden nicht alle Bewohner_innen vom Gericht über das Rechtsverfahren informiert. Die Behörden konnten zwar eine Verlängerung der Räumungsfrist mit den Justizbehörden vereinbaren, teilten Amnesty International jedoch am 27. Februar 2017 mit, dass keine weiteren Verlängerungen möglich seien und die Räumung unmittelbar bevorstehe.

Obwohl die städtischen Behörden über ein Jahr dafür Zeit gehabt hatten, führten sie keine wirkliche Konsultation durch, um mögliche Alternativen zur Zwangsräumung auszuloten oder alternative Unterkunftsmöglichkeiten zu finden. Nach Recherchen von Amnesty International planen die städtischen Behörden die Umsiedlung von 200 Roma in ein neues, abgetrenntes Lager, das derzeit mit Mitteln der Stadt und des Innenministeriums in Via del Riposo (ebenfalls in Neapel) gebaut wird. Wie die Behörden angaben, sollen auch einige kleine Wohnungen, die von organisierten Verbrecherbanden beschlagnahmt wurden, zur Neuansiedlung einiger der Bewohner_innen von Gianturcu genutzt werden. Außerdem stellen sie insgesamt 75.000 Euro bereit, um 25 Familien die Anmietung von Privatwohnungen zu ermöglichen. Diese Übergangshilfe ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Allerdings räumten die Behörden ein, dass Hunderte Personen, darunter Kinder, keine alternative Unterbringungsmöglichkeit erhalten und so von Obdachlosigkeit bedroht sind.

Hintergrundinformation

Hintergrund

In der informellen Siedlung von Gianturco leben zwischen 850 und 1300 Erwachsene und Kinder, viele davon in selbstgebauten Häusern aus Ziegeln, Holz und Blech. Dutzende Familien kamen hierher, nachdem die Siedlung, in der sie vorher gelebt hatten, 2011 von Unbekannten in Brand gesteckt worden war. Die ursprüngliche Siedlung befand sich in Via del Riposo, wo die städtischen Behörden aktuell ein neues abgetrenntes Lager bauen, das einige der Familien aus Gianturco aufnehmen soll.

In den vergangenen Monaten haben Bewohner_innen über häufige Kontrollen und Durchsuchungen in der Siedlung durch Ordnungskräfte berichtet. Diese resultierten in der Beschlagnahmung von Lebensmittelvorräten und Autos, Handkarren, Motorrollern und Einkaufswagen, die von den Familien für den Transport von verwertbaren Altmaterialien genutzt werden, die sie in der Stadt sammeln. Auch berichteten sie über Drangsalierungen durch Ordnungskräfte, die sie wiederholt aufforderten, das Lager zu verlassen. Der Lebensunterhalt der Gemeinschaft wurde durch das Verbot der Behörden, einen inoffiziellen Markt für Gebrauchtwaren auf dem Platz der Siedlung abzuhalten, stark beeinträchtigt.

Am 27. Februar 2017 informierten die städtischen Behörden Amnesty International über die in Kürze bevorstehende Räumung. Weder Amnesty International noch den Bewohner_innen wurde jedoch ein genaues Datum genannt. Das Umsiedlungsvorhaben der Gemeinde sieht Folgendes vor:

  • Ein neues, genehmigtes Lager, das derzeit in Vial del Riposo gebaut wird und rund 36 - 40 Familien (etwa 200 Personen) aufnehmen soll. Die Behörden haben weder angegeben, wie viele Familien genau in das neue Lager umgesiedelt werden sollen, noch detaillierte Informationen zu Kriterien und Verfahren für die Auswahl der jeweiligen Familien genannt. Wie die Behörden Amnesty International mitteilten, sollen sich unter den in das neue Lager umgesiedelten Personen Familien mit Kindern befinden, die regelmäßig zur Schule gehen, sowie ältere und besonders schutzbedürftige Personen. Viele Familien haben jedoch in Gesprächen ihre Besorgnis angesichts der Tatsache geäußert, dass sie bisher nicht über ihren Wohnort nach der Räumung von Gianturco informiert wurden.

  • Eine Gesamtsumme von 75.000 Euro, welche die Gemeinde für 25 Roma-Familien in ganz Neapel (nicht nur für zwangsgeräumte Bewohner_innen der Siedlung Gianturco) zur Verfügung stellen will. Im Gegenzug müssen die jeweiligen Familien sich verpflichten, an Arbeitsprogrammen teilzunehmen, für den Schulbesuch ihrer Kinder Sorge zu tragen, sich nicht in genehmigten oder informellen Zentren und Lager für Roma aufzuhalten und keine Straftaten zu begehen. Viele der Roma befürchten, dieses Angebot nicht in Anspruch nehmen zu können, weil sie die Mietzahlungen zunächst selbst übernehmen müssten und die Ausgaben in Höhe von maximal 3000 Euro pro Familie erst später erstattet würden. Wie viele erklärten, wäre es ihnen angesichts ihrer prekären Beschäftigungssituation nicht möglich, die Miete und damit verbundene Nebenkosten für eine Privatwohnung in ihrer aktuellen Lage auf Dauer selbst zu tragen.

  • Einige kleine Wohnungen, die von organisierten Verbrecherbanden beschlagnahmt wurden, sollen ebenfalls von Bewohner_innen aus Gianturco genutzt werden. Es gab jedoch keine näheren Angaben zur Zahl dieser Wohnungen oder zu den Kriterien und Bedingungen für die Zuteilung.

Amnesty International kommt zu dem Schluss, dass die genannten Unterkunftsmöglichkeiten keine Alternative für alle aktuell in Gianturco lebenden Personen bieten, auch nicht für die von den Behörden genannte niedrigere Bewohnerzahl von 850 Personen. Darüber hinaus ist das neue abgetrennte Lager als Hauptumsiedlungsalternative für etwa 200 der Bewohner_innen diskriminierend und verstößt gegen internationale und regionale Menschenrechtsverpflichtung, darunter die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne rassistische Diskriminierung.

Italien ist Vertragsstaat einer Reihe von internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen, die rechtswidrige Zwangsräumungen verbieten. Hierbei handelt es sich um Räumungen, die ohne angemessene Benachrichtigung und wirkliche Konsultation mit den Betroffenen erfolgen, bei denen die nötigen rechtlichen Schutzmaßnahmen nicht gewährleistet werden und im Zuge derer keine angemessenen Alternativunterkünfte bereitgestellt werden. Wie die Recherchen von Amnesty International zeigen, scheinen derartige Maßnahmen bei der bevorstehenden Zwangsräumung von Bewohner_innen der Siedlung Gianturco nicht gewährleistet zu sein, womit die Behörden gegen ihre Verpflichtungen im Rahmen einer Reihe von internationalen und regionalen Menschenrechtsabkommen verstoßen.

Die bevorstehende Zwangsräumung und der langfristige Plan zur Umsiedlung der Familien in ein abgetrenntes Lager nur für Roma steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen, die Segregation von Roma in Lagern zu beenden, wie sie Italien in seiner 2012 verabschiedeten Nationalen Strategie für die Integration der Roma eingegangen ist. Amnesty International hat der EU-Kommission diesbezüglich umfassende Nachweise vorgelegt und wiederholt gefordert, im Rahmen der EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ohne rassistische Diskriminierung ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien einzuleiten, um gegen die Diskriminierung von Roma bei der Ausübung ihres Rechts auf Wohnen in Form rechtswidriger Zwangsräumungen und der Segregation in Lagern vorzugehen.