Kanada: Indigene Landrechte bedroht

Drei Männer in traditioneller Bekleidung stehen vor einem Gebäude und schauen in die Kamera

Führende Mitglieder der indigenen Gemeinschaft der Wet’suwet’en demonstrieren am 7. April 2022 in der kanadischen Stadt Toronto gegen den Bau einer Gas-Pipeline auf ihrem Territorium.

In Kanada sind Angehörige der Wet’suwet’en First Nation, die für ihre Landrechte kämpfen, von schweren Menschenrechtsverletzungen und Festnahmen bedroht. Indigene Sprecher*innen wenden sich gegen eine geplante Flüssiggas-Pipeline und haben dem Projekt nie zugestimmt. Angehörige der Wet’suwet’en und weitere Landrechtsverteidiger*innen mussten seit 2019 bereits drei Razzien durch schwer bewaffnete Polizeikräfte über sich ergehen lassen. Gegen 15 Personen läuft derzeit ein Strafverfahren wegen Missachtung einer gerichtlichen Verfügung, die die Polizei befugt, Personen zu entfernen, die bestimmte Baustellen besetzen. Angehörige der Wet’suwet’en berichten über alltägliche Schikanen und Einschüchterungsversuche seitens der kanadischen Polizei und privater Sicherheitsleute.

Appell an

Minister für Öffentliche Sicherheit

The Honourable Marco Mendicino, P.C., M.P.

Minister of Public Safety

House of Commons, Ottawa

Ontario K1A 0A6

KANADA

Sende eine Kopie an

Botschaft von Kanada

S. E. Herrn Stéphane Dion

Leipziger Platz 17

10117 Berlin

Fax:      030-20 31 25 90

E-Mail: brlin@international.gc.ca

Amnesty fordert:

  • Ziehen Sie bitte umgehend die Einheiten der RCMP und anderer Sicherheits- und Polizeikräfte aus dem Territorium der Wet’suwet’en ab und leiten Sie eine Untersuchung bezüglich der Vorwürfe über Schikane, Einschüchterung und Vertreibung ein.
  • Sorgen Sie dafür, dass alle Bauarbeiten an der Coastal GasLink Pipeline und zugehöriger Infrastruktur so lange eingestellt werden, bis alle Angehörigen der Wet’suwet’en auf der Grundlage aller nötigen Informationen ihre freie und informierte Einwilligung zu dem Projekt gegeben haben.
  • Nehmen Sie bitte den konstruktiven Dialog mit den Hereditary Chiefs über die Coastal GasLink Pipeline wieder auf, der im November 2021 zum Stillstand kam. Respektieren Sie dabei die Gesetze sowie die Rechte auf Selbstbestimmung und freiwillige vorherige Zustimmung nach Inkenntnissetzung der Wet'suwet'en.

Sachlage

In der kanadischen Provinz British Columbia müssen Angehörige der Wet’suwet’en First Nation, die gegen den Bau der Coastal GasLink Pipeline kämpfen, um ihre Sicherheit fürchten. Laut Angaben einiger indigenen Sprecher*innen stehen Bohrungen unter dem Wedzin Kwa (auch als Morice River bekannt) unmittelbar bevor. Der Fluss dient als eines der letzten Vorkommen für sauberes Trinkwasser auf dem Territorium der Wet’suwet’en und ist ein Laichgebiet für Lachse. Friedliche Protestierende und Landrechtsverteidiger*innen besetzen seit September 2021 den Bohrplatz. Der Minister für Öffentliche Sicherheit in British Columbia erteilte der Militärpolizei die Befugnis, im Rahmen einer von der Firma Coastal GasLink erhaltenen gerichtlichen Verfügung alle Landrechtsverteidiger*innen festzunehmen und aus dem Territorium zu entfernen.

Die sogenannten Hereditary Chiefs der Wet’suwet’en sind die traditionell anerkannten Sprecher*innen der First Nation, sowohl gemäß den Gesetzen der Wet’suwet’en als auch laut der Delgamuukw-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1997. Obgleich einige gewählte Regierungen der First Nations Vereinbarungen mit der Firma unterschrieben haben, haben die Hereditary Chiefs der Coastal GasLink Pipeline nie zugestimmt. Angehörige der Wet’suwet’en, die sich friedlich für die ihnen zustehenden Landrechte einsetzen, werden nach eigenen Angaben schikaniert, eingeschüchtert, vertrieben und von der berittenen Polizei (Royal Canadian Mounted Police – RCMP) sowie den Sicherheitsleuten der Firma kriminalisiert.

Im Mai beschrieb der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung von rassistischer Diskriminierung in einem dritten Brief an Kanada seine Sorge über die eskalierende Gewaltanwendung, Überwachung und Kriminalisierung von Landrechtsverteidiger*innen und friedlichen Protestierenden durch die RCMP sowie die zuständige Einheit der RCMP (Community-Industry Response Group – C-IRG) und private Sicherheitsleute.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit und die Generalstaatsanwaltschaft von British Columbia genehmigten drei Mal – 2019, 2020 und 2021 – den Einsatz von RCMP-Angehörigen, um Mitglieder der Wet’suwet’en und friedliche Protestierende auf dem Territorium der indigenen Gemeinschaft festzunehmen. Seither sind 74 Personen festgenommen und inhaftiert worden, darunter auch juristische Beobachter*innen und Journalist*innen. Die RCMP wurde mit halbautomatischen Schusswaffen, Hubschraubern und Polizeihunden ausgestattet. In einem aufgezeichneten Vorfall verschafften sich RCMP-Angehörige mit einer Axt und einer Kettensäge Zutritt zu einer Wohnung und zielten mit Schusswaffen auf die Bewohner*innen. Bis heute wurden mehr als 20 Mio. kanadische Dollar für Polizeiarbeit und Überwachung auf dem Territorium der Wet’suwet’en ausgegeben. In Unterlagen der kanadischen Regierung werden Sprecher*innen der Wet’suwet’en als "indigene Extremist*innen" (aboriginal extremists) bezeichnet.

Im Februar 2022 beantragten Rechtsbeistände für Coastal GasLink am Obersten Gerichtshof von British Columbia, die im November 2021 festgenommenen Personen wegen Missachtung eines Gerichtsbeschlusses strafrechtlich verfolgen zu dürfen. In der Vergangenheit wurde bereits zwei Mal entschieden, dass ein Strafverfahren nicht im öffentlichen Interesse sei. Am 1. Juni kündigte die Staatsanwaltschaft von British Columbia jedoch an, gegen 15 Personen ein Strafverfahren wegen Missachtung einzuleiten und möglicherweise einen Strafantrag gegen zehn weitere Personen zu stellen, die am 19. November festgenommen wurden. Die Entscheidung soll am 7. Juli mitgeteilt werden. Die kanadische Bundesregierung führt an, dass die Landrechtsverteidiger*innen wiederholt einen Gerichtsbeschluss missachtet haben, doch die Hereditary Chiefs machen geltend, dass Kanada nicht befugt ist, einem Unternehmen eine gerichtliche Verfügung für ein Projekt auf dem angestammten Territorium der Wet’suwet’en zu gewähren, welches die indigene Gemeinschaft nicht bewilligt hat. Die Wet’suwet’en haben seit der Delgamuukw-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Jahr 1997 einen rechtlichen Anspruch auf ihr Land.

Die Community-Industry Response Group (C-IRG), eine Spezialabteilung der RCMP, wurde 2017 mit Blick auf großangelegte Industrieprojekte zum Ressourcenabbau in British Columbia ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, "bei Vorfällen betreffend den Energiesektor und verwandten Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung, nationale Sicherheit und Kriminalität für strategische Aufsicht und standardisierte Maßnahmen zu sorgen". Ein großer Teil ihres Aufgabenbereichs ist die Durchsetzung gerichtlicher Verfügungen. Die C-IRG koordiniert die Maßnahmen verschiedener Gruppen mit Polizeibefugnissen wie z. B. der RCMP, des Polizeidiensts für die Arbeit mit indigenen Gemeinschaften, des E-Division Critical Incidents Program und anderen Regierungsabteilungen.

Fortsetzung (auf Englisch)

Canada is party to international human rights Conventions, such as the Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD) and has a legal obligation to uphold the rights enshrined in those treaties. Canada announced its support for the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (UNDRIP) which was passed into federal and provincial law in 2021 and 2019 respectively. The Declaration affirms that Indigenous peoples have the right to make their own decisions about their lives and futures according to their own laws and traditions. Yet Canada consistently fails to respect the rights of Indigenous peoples when they say no to resource extraction projects. A selective approach to human rights is contrary to the letter and spirit of Canada’s human rights obligations and the reconciliation with Indigenous peoples that the Federal and Provincial governments claim to champion.

The Coastal GasLink pipeline is part of LNG Canada’s liquified natural gas project to export LNG to Asian markets. The project has the support of the government of Canada and the province of British Columbia. Canada is pursuing a policy of aggressive domestic fossil fuel expansion which contributes to the increase of greenhouse gas emissions. Canada must urgently phase out fossil fuels use and production to protect human rights.

  • Internal emails reveal police planning to raid camps while province in talks with Wet’suwet’en leadership.
  • RCMP spending on Wet’suwet’en conflict tops $21 million.
  • UN Committee issues third rebuke to Canada.