Kanada: Anklagen gegen Landrechtsverteidiger*innen fallen lassen!

Drei Männer in traditioneller Bekleidung stehen vor einem Gebäude und schauen in die Kamera

Führende Mitglieder der indigenen Gemeinschaft der Wet’suwet’en demonstrieren am 7. April 2022 in der kanadischen Stadt Toronto gegen den Bau einer Gas-Pipeline auf ihrem Territorium.

Die indigene Gruppe der Wet'suwet'en First Nation schützt ihr angestammtes Land und ihre Gewässer vor dem Bau einer Flüssiggaspipeline. Die Wet'suwet'en und ihre Unterstützer*innen, die sich gegen den Bau der Pipeline wehren, werden von der kanadischen Polizei überwacht, schikaniert und eingeschüchtert. Die kanadische Polizei hat Landrechtsverteidiger*innen der Wet'suwet'en und ihre Unterstützer*innen rechtswidrig festgenommen. Gegen sieben Landverteidiger*innen hat bereits ein Gerichtsverfahren begonnen oder wird am 30. Oktober 2023 bzw. im Januar 2024 beginnen. Die Behörden müssen die Anklagen wegen Missachtung einer gerichtlichen Verfügung gegen die Personen fallen lassen, die nur deshalb festgenommen wurden, weil sie ihre Rechte als First Nation und ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahrgenommen haben.

Appell an

Generalstaatsanwältin

Attorney General
Niki Sharma

2135 East Hastings Street

Vancouver

British Columbia

KANADA

Sende eine Kopie an

Botschaft von Kanada

Frau Isabelle Poupart

Geschäftsträgerin a.i.

Leipziger Platz 17

10117 Berlin

Fax: 030-20 31 25 90

E-Mail: brlin@international.gc.ca

 

Amnesty fordert:

  • Die kanadische berittene Polizei (RCMP) hat bei der Durchsetzung einer von der Pipelinegesellschaft erwirkten einstweiligen Verfügung Dutzende von Landrechtsverteidiger*innen festgenommen. Angehörige indigener Gruppen, die sich an friedlichen Aktionen zur Verteidigung ihres Landes beteiligen, sollten nicht allein deshalb kriminalisiert werden, weil sie ihre Rechte wahrgenommen haben.
  • Da am 30. Oktober die Gerichtsverhandlungen für einige der Landrechtsverteidiger*innen stattfinden, ist es jetzt an der Zeit, dass Sie aktiv werden. Stellen Sie das Strafverfahren gegen die kriminalisierten Landrechtsverteidiger*innen, die sich gegen die Coastal GasLink Pipeline wehren, bitte unverzüglich ein und lassen Sie sie frei.

Sachlage

Die Umweltschützer*innen des Wet'suwet'en-Landes und die sogenannten Hereditary Chiefs der Wet’suwet’en, die traditionell anerkannten Sprecher*innen der First Nation, haben dem Coastal GasLink Pipeline-Projekt auf ihrem angestammten und unangefochtenen Gebiet nie zugestimmt. Die Erlaubnis, ohne ihre freie, vorherige und informierte Zustimmung zu bauen, missachtet ihre Rechte auf Selbstbestimmung und auf die Entscheidung, welche wirtschaftliche Entwicklung auf ihrem angestammten Land stattfindet, wie sie in verschiedenen internationalen Menschenrechtsinstrumenten festgeschrieben sind, einschließlich der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker, die mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Erklärung der Rechte indigener Völker durch die Provinzregierung im November 2019 im Recht von British Columbia verankert wurde.

Die Pipeline hat bereits Umweltzerstörungen verursacht und die Wet'suwet'en First Nation von ihrem angestammten Gebiet abgeschnitten. Sie konnten viele ihrer traditionellen Tätigkeiten wie Jagen und Fischen nicht mehr ausüben, weil sich nun Baustellen im Wald befinden. 

Die kanadische berittene Polizei (Royal Canadian Mounted PoliceRCMP) hat bei der Durchsetzung einer von der Pipelinegesellschaft erwirkten einstweiligen Verfügung Dutzende von Landverteidiger*innen festgenommen. Angehörige indigener Gruppen, die sich an friedlichen Aktionen zur Verteidigung ihres Landes beteiligen, sollten nicht allein deshalb kriminalisiert werden, weil sie ihre Rechte wahrgenommen haben.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Die Delgamuukw-Gisday'wa-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Kanada aus dem Jahr 1997 bestätigt, dass die Wet'suwet'en-Sprecher*innen gemäß der Regierungsstruktur der Wet'suwet'en die Regierung der First Nation sind. Alle fünf Clans der Wet'suwet'en sind gegen die Pipeline. Dennoch wird das Projekt ohne die freie, vorherige und auf Kenntnis der Sachlage gegründete Zustimmung (FPIC) des Wet'suwet'en fortgesetzt, was einen Verstoß gegen das Wet'suwet'en-Recht 'Anuc niwh'it'en, das kanadische Verfassungsrecht und die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Kanadas, einschließlich der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP), darstellt. Coastal GasLink (CGL) ist eine Tochtergesellschaft der TC Energy Corporation, die für den Bau von Pipelines zuständig ist. Die Coastal GasLink Pipeline mit einer Länge von 670 Kilometern würde das durch Fracking gewonnene Gas zur geplanten Verarbeitungsanlage von LNG Canada, dem Flüssiggasexportprojekt Kanadas, transportieren.

Im Dezember 2018 erließ der Oberste Gerichtshof von British Columbia auf Antrag des Pipeline-Unternehmens eine einstweilige Verfügung, die es Landverteidiger*innen untersagte, die Hauptstraße durch das Gebiet der Wet'suwet'en zu blockieren, um den Bau der Pipeline zu verhindern. Im Februar 2019 forderten die Wet'suwet'en-Sprecher*innen einen Baustopp für die Pipeline. Im Dezember 2019 erließ der Oberste Gerichtshof von British Columbia eine einstweilige Verfügung, die auch Durchsetzungsbestimmungen enthält. Im Rahmen dieser Verfügungen haben die berittene Polizei RCMP und ihre Community-Industry Response Group (C-IRG) Landrechtsverteidiger*innen der Wet'suwet'en, darunter auch Sprecher*innen und Matriarchinnen, überwacht, schikaniert und eingeschüchtert. Darüber hinaus haben die RCMP und die C-IRG Landverteidiger*innen der Wet'suwet'en und ihre Unterstützer*innen durch militarisierte Polizeirazzien in ihren Territorien gewaltsam vertrieben und rechtswidrig festgenommen. Amnesty International wandte sich mit Schreiben vom 12. Juli 2022, 17. Mai 2023 und 17. Juli 2023 an die Pipelinegesellschaft und erhielt umfassende Antworten, die jedoch nicht auf diese Vorwürfe eingingen. Im Juni 2023 traf Amnesty International mit Vertreter*innen von Coastal GasLink zusammen und brachte erneut ihre Besorgnis über diese Missstände zum Ausdruck, erhielt aber immer noch keine Antwort zu den Vorfällen.

Bei vier groß angelegten Polizeiaktionen im Januar 2019, Februar 2020, November 2021 und März 2023 als Reaktion auf die Verteidigung ihres Landes durch die Wet'suwet'en und ihre Unterstützer*innen wurden mehr als 75 Personen festgenommen und inhaftiert, darunter auch juristische Beobachter*innen und Medienschaffende. Im Juni und Juli 2022 beschloss der frühere Generalstaatsanwalt von British Columbia, Murray Rankin, 20 Landrechtsverteidiger*innen wegen mutmaßlicher Missachtung der gerichtlichen Anordnung (der einstweiligen Verfügung), sich von den Pipeline-Baustellen fernzuhalten, strafrechtlich zu verfolgen. Im Dezember 2022 bekannten sich fünf Landrechtsverteidiger*innen schuldig, was für drei eine Geldstrafe von 500 kanadischen Dollar und für die beiden anderen 25 Stunden gemeinnützige Arbeit bedeutete. Obwohl die Regierung eine Aussetzung des Verfahrens für mehrere juristische Beobachter*innen verfügt hat, werden die verbleibenden Landrechtsverteidiger*innen von Mai 2023 bis Januar 2024 vor Gericht stehen. Fast 37 Millionen kanadische Dollar wurden zwischen 2019 und März 2023 an öffentlichen Geldern ausgegeben, um Wet'suwet'en-Landrechtsverteidiger*innen, First Nation Nachbarn wie die Gitxsan sowie Verbündete zu überwachen und zu kontrollieren.

Seit 2009 haben die Wet'suwet'en-Landrechtsverteidiger*innen mehrere Gelände und Strukturen auf dem Land errichtet, um ihre juristische Zuständigkeit für das Gebiet zu bekräftigen. Darüber hinaus haben die Wet'suwet'en ein FPIC-Protokoll eingeführt, das vorsieht, dass jede*r Besucher*in des Territoriums die Erlaubnis der Ältesten einholen muss, um es zu betreten. Coastal GasLink legte Unterlagen über den Konsultationsprozess mit der Wet'suwet'en First Nation bezüglich des Pipelineprojekts vor. Nach Prüfung der Unterlagen stellte Amnesty International jedoch fest, dass der Konsultationsprozess nicht den internationalen Menschenrechtsstandards entsprach und die First Nation letztendlich nicht ihre freie, vorherige und informierte Zustimmung zum Fortgang des Projekts gegeben hat. Im Rahmen seines Frühwarn- und Dringlichkeitsverfahrens forderte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) Kanada im Dezember 2019 auf, alle Genehmigungen und Zulassungen für den Bau der Coastal GasLink Pipeline auszusetzen, bis die freie, vorherige und auf Kenntnis der Sachlage gegründete Zustimmung der Wet'suwet'en First Nation eingeholt wurde, nachdem die Pflicht zur Konsultation vollständig und angemessen erfüllt wurde. Amnesty International hat an eine Reihe von kanadischen Bundes- und Provinzbehörden Interviewanfragen und Fragen geschickt. Zwar lehnten alle Behörden ein Treffen mit Amnesty International ab, doch gingen schriftliche Antworten von der RCMP, dem Premierminister von B.C. und der Energieregulierungsbehörde von B.C. ein. Die Antworten waren allgemein gehalten und gingen nicht auf die von Amnesty International gestellten Fragen ein.