Brasilien: Kurz vor Abstimmung - Gesetz gegen Indigenen-Rechte

Diese Urgent Action ist beendet.

Nach einem zweijährigen Verfahren hat das Oberste Gerichtshof Brasiliens am 27. September die Stichtagsregelung für verfassungswidrig erklärt und das ursprüngliche Recht der indigenen Bevölkerung auf die ausschließliche Nutzung ihrer angestammten Gebiete bestätigt. Am selben Tag verabschiedete der Bundessenat im Eilverfahren die Gesetzesvorlage 2.903/2023, mit der versucht wird, die Stichtagsregelung dennoch gesetzlich zu verankern. Wir wenden uns nun auf anderem Wege an Präsident Lula, und fordern die Ablehnung dieses neuen Gesetzentwurfs.

Das Bild zeigt mehrere Menschen mit einem Protestplakat

"Unsere Geschichte begann nicht erst 1988": Indigene demonstrieren in der brasilianische Hauptstadt Brasilia gegen die Verabschiedung eines diskriminierenden Gesetzes (5. Juni 2023).

Der Senat steht kurz vor einer historischen Entscheidung. Bereits im Mai hatte das brasilianische Parlament einem Gesetzentwurf zugestimmt, der die Rechte der indigenen Bevölkerung massiv einschränken würde – trotz umfangreicher Proteste und Gegenmobilisierungen. In Brasilien steht derzeit bei 285 Gebieten die Demarkierung aus, also ihre endgültige Anerkennung als indigenes Gebiet. Tritt das Gesetz in Kraft, würde die Ausweisung indigener Territorien massiv begrenzt werden.

Appell an

Präsident des Senats

Rodrigo Pacheco


Praça dos Três Poderes

Brasília DF - CEP 70165-900


BRASILIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Föderativen Republik Brasilien

S. E. Herrn Roberto Jaguaribe Gomes De Mattos

Wallstraße 57


10179 Berlin

Fax: 030-726 283 20

E-Mail: brasemb.berlim@itamaraty.gov.br

 

Amnesty fordert:

  • Ich appelliere dringend an Sie und alle Mitglieder des Senats, den Gesetzentwurf 2903/2023 abzulehnen.

Sachlage

Um überhaupt Anspruch auf die Demarkierung ihrer Gebiete erheben zu können, müssten indigene Gemeinschaften zukünftig nachweisen können, dass sich diese bereits bei der Verkündung der Verfassung am 5. Oktober 1988 in ihrem Besitz befanden ("Marco Temporal"-Regelung). Diese Stichtagsregelung ignoriert unter anderem die kontinuierliche Vertreibung von Indigenen vor 1988 und zementiert die systemischen Menschenrechtsverletzungen, denen sie in Brasilien ausgesetzt sind.

Am 30. Mai hat das brasilianische Parlament dem Gesetzentwurf 2903/2023 zugestimmt, mit dem das Indigenenstatut (Estatuto do Índio) reformiert werden soll. Eine Woche später, am 7. Juni, hielt der Oberste Gerichtshof Brasiliens eine Sitzung ab, in der die Stichtagsregelung des "Marco Temporal"-Konzepts erneut zur Debatte stand. Diese Einschränkung der Demarkierungsansprüche wird seit 2019 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt, in den kommenden Monaten soll ein Urteil gefällt werden. Auch indigene Gruppen waren zu dieser Sitzung eingeladen. Parallel dazu organisiert die indigene Bewegung Gegenproteste im ganzen Land – mit Schwerpunkt auf Brasilia – um die Abstimmung über den Gesetzentwurf 2903/2023 zu verhindern. Es wird erwartet, dass der Gerichtshof den Gesetzentwurf als verfassungswidrig einstufen wird, weil er gegen die Rechte der indigenen Bevölkerung verstößt. Deswegen wird der – von der Opposition dominierte – Senat darauf hinwirken, dass die Abstimmung über den Gesetzentwurf 2903/2023 noch vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs stattfindet. So soll sichergestellt werden, dass die vorgeschlagenen Einschränkungen der Rechte der indigenen Bevölkerung genehmigt werden können.

Der Gesetzentwurf 2903/2023 bedroht die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen, insbesondere bezüglich Selbstbestimmung und angestammter Territorien. Die "Marco Temporal"-Stichtagsregelung lässt außer Acht, dass indigene Gemeinschaften in Brasilien seit Jahrzehnten unter systemischen Menschenrechtsverletzungen leiden und kontinuierlich – auch schon vor 1988 – von ihrem Land vertrieben worden sind. Dies geschieht z. B. zum Zweck der Energieerzeugung, des illegalen Goldabbaus und des Straßenbaus durch Akteure wie die Regierung, Rancher*innen, landwirtschaftliche Konzerne und Goldschürfer*innen.

In Brasilien steht derzeit bei 285 Gebieten die Demarkierung aus, also ihre endgültige Anerkennung als indigenes Gebiet. Dies trägt dazu bei, dass Tausende Gemeinschaften nach wie vor gewaltsamen Landkonflikten ausgesetzt sind, bei denen laut der Indigenenrechtsorganisation CIMI (Conselho Indigenista Missionário) allein im Jahr 2022 insgesamt 176 Menschen getötet wurden.

Im Rahmen des Gesetzesvorhabens könnten zudem Waldabholzung, Landaneignungen und Gewalt gegen Indigene zunehmen, da abgeschlossene Demarkierungsprozesse rückgängig gemacht werden könnten. All dies stellt eine existenzielle Bedrohung für indigene Gemeinschaften in Brasilien dar.

Die Regierung hat die Indigenenrechte gemäß ihren Verpflichtungen unter dem Völkerrecht und der brasilianischen Verfassung zu schützen. Amnesty International fordert den Senat daher auf, die Gesetzesvorlage abzulehnen und sich damit für die brasilianische Bevölkerung, den Schutz indigener Gemeinschaften, den Erhalt fragiler Ökosysteme und der weltweit letzten Kohlenstoffsenken – die zur Eindämmung der globalen Erwärmung beitragen können – auszusprechen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Im Jahr 1988 lebten zahlreiche Angehörige der Guarani Kaiowá, Avá Guarani und anderer indigener Gemeinschaften außerhalb ihrer angestammten Territorien, da diese Grundstücke von Rancher*innen, Großgrundbesitzer*innen und Goldschürfer*innen besetzt oder von der Regierung zur Bebauung vereinnahmt worden waren. Bei 285 indigenen Gebieten steht derzeit die Demarkierung aus, und im Jahr 2023 wurden bislang lediglich sechs Gebiete ausgewiesen.

Aufgrund des nur langsam voranschreitenden Demarkierungsprozesses kommt es immer wieder zu Landkonflikten, denen bereits Hunderte Indigene zum Opfer gefallen sind. Zwischen 2019 und 2022 wurde kein einziges indigenes Gebiet offiziell ausgewiesen. Laut Angaben der Indigenenrechtsorganisation CIMI wurden in diesem Zeitraum aufgrund von Landkonflikten mehr als 470 Indigene getötet – 176 allein im Jahr 2022.

Laut Angaben der staatlichen Indigenenbehörde FUNAI gibt es in Brasilien 734 indigene Territorien, die 117.537.905 Hektar umfassen, was 13,8% der Gesamtfläche Brasiliens ausmacht. Von diesen Gebieten sind 67,57% bereits als Schutzgebiete ausgewiesen bzw. homologiert, gut 32% befinden sich noch im Demarkierungsprozess, und 16% werden gerade erst geprüft, stehen also noch ganz am Anfang des Demarkierungsprozesses.