Vietnam: Drohende Hinrichtung

Ein Mann in einem schwarz-weiß-gestreiften Anzug hält sich an beide Ohren je ein Kabeltelefon. Es ist Nguyễn Văn Chưởng.

Nguyễn Văn Chưởng (Archivaufnahme vom August 2014)

Am 4. August wurde die Familie von Nguyn Văn Chưởng aufgefordert, innerhalb von drei Tagen beim Volksgericht in Hải Phòng zu erscheinen, um nach seiner Hinrichtung die Übergabe des Leichnams zu regeln. Nguyn Văn Chưởng befindet sich seit 2008 wegen mutmaßlichen Mordes im Todestrakt. Er war in einem unfairen Verfahren auf der Grundlage eines "Geständnisses" zum Tode verurteilt worden, das seinen Angaben zufolge von der Polizei unter Folter erzwungen worden war. Zwei Personen, die bezeugt hatten, dass er zur Tatzeit 40 Kilometer entfernt war, berichteten, dass sie von Polizeikräften misshandelt und genötigt worden seien, ihre Aussage zurückzuziehen. Der Familie von Nguyn Văn Chưởng wurde bisher kein Hinrichtungstermin mitgeteilt.

Appell an

Präsident

Võ Văn Thưởng

President of Vi
t Nam

No. 2, Hùng V
ương, Ba Đình District

Hà Ni

VIETNAM

Sende eine Kopie an

Botschaft der Sozialistischen Republik Vietnam

S. E. Herrn Vu Quang Minh

Elsenstraße 3

12435 Berlin

Fax: 030-5363 0200

E-Mail: info@vietnambotschaft.org

 

Amnesty fordert:

  • Bitte setzen Sie jegliche Pläne für die Hinrichtung von Nguyn Văn Chưởng aus und gewähren Sie ihm eine faire Überprüfung seines Falls.
  • Leiten Sie bitte umgehend eine unabhängige und unparteiische Untersuchung seiner Folter- und Misshandlungsvorwürfe ein.

Sachlage

Der 40-jährige Nguyn Văn Chưởng aus dem Norden Vietnams wurde 2008 gemeinsam mit zwei weiteren Personen wegen mutmaßlichen Raubüberfalls und Ermordung eines Polizisten im Juli 2007 zum Tode verurteilt. Am 4. August 2023 wurde seine Familie aufgefordert, die Übergabe seines Leichnams zu regeln, was Befürchtungen auslöste, dass seine Hinrichtung kurz bevorstehen könnte. Seine Familie konnte ihn am 14. August im Gefängnis besuchen, wo er bestätigte, dass er über seine anstehende Hinrichtung informiert worden sei, allerdings noch keinen Termin erhalten habe.

Nguyễn Văn Chưởng weist alle Vorwürfe zurück und hat in Briefen an seine Familie beschrieben, wie er im Polizeigewahrsam gefoltert und anderweitig misshandelt wurde, um ihn dazu zu bringen, den Mord zu "gestehen". Er gab an, bei Verhören durch die Polizei nackt ausgezogen, aufgehängt und geschlagen worden zu sein. Berichten zufolge weisen die Behörden die Vorwürfe zurück.

Staatlichen Medienberichten zufolge sind mehrere Personen aus seinem Dorf bereit auszusagen, dass sie Nguyễn Văn Chưởng zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt dort gesehen hatten – 40 Kilometer vom Tatort entfernt. Zwei von ihnen, die dies bereits bezeugt hatten, berichteten, dass sie von Polizeikräften misshandelt und genötigt worden seien, ihre Aussage zurückzuziehen. Das Stadtgericht von Hải Phòng stützte sich bei der Verurteilung jedoch trotzdem vornehmlich auf die Angaben der Polizei.

Die Familie und Rechtsbeistände von Nguyễn Văn Chưởng senden seit 16 Jahren Anträge an Gerichte aller Instanzen, um eine Überprüfung seines Schuldspruchs und des Todesurteils zu fordern. Im Jahr 2011 forderte die Oberste Volksstaatsanwaltschaft den Obersten Volksgerichtshof auf, sein Todesurteil umzuwandeln. Dies wurde im Dezember 2011 zurückgewiesen.

Todesurteile, die nach Gerichtsverfahren verhängt werden, die nicht den internationalen Standards für faire Verfahren entsprechen – wie sie z. B. in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) enthalten sind, dessen Vertragsstaat Vietnam ist – verstoßen gegen das Völkerrecht. Eine Hinrichtung auf Grundlage eines solchen Todesurteils ist als willkürlich zu betrachten.

Amnesty International lehnt die Todesstrafe grundsätzlich und ohne Ausnahme ab, ungeachtet der Art und Umstände des Verbrechens, der Schuld oder Unschuld der Person oder der Hinrichtungsmethode. Die Todesstrafe verletzt das Recht auf Leben und ist die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen. Bis heute haben 112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft, und mehr als zwei Drittel aller Länder haben sie per Gesetz oder in der Praxis abgeschafft.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Im Jahr 2011 forderte die Oberste Volksstaatsanwaltschaft den Obersten Volksgerichtshof auf, das Todesurteil von Nguyễn Văn Chưởng umzuwandeln. Dies wurde im Dezember 2011 zurückgewiesen. Der Rechtsbeistand Le Van Hoa, der im Jahr 2013 für das Zentralkomitee für innere Angelegenheiten arbeitete und den Fall von Nguyn Văn Chưởng prüfte, wies kürzlich in einem Interview auf zahlreiche Ungereimtheiten und Verfahrensverletzungen während der Untersuchungs-, Verfahrens- und Rechtsmittelphasen hin. So gab er beispielsweise an, dass die Analyse der forensischen Spuren am Tatort erhebliche Widersprüche aufwies; dass das Schwert und die Messer, die Nguyn Văn Chưởng und seine Mitangeklagten laut Polizeiangaben als Mordwaffen benutzt haben sollen, nicht die Verletzungen des Getöteten herbeigeführt haben konnten; dass die Zeugenaussagen vor Gericht zahlreiche Widersprüche aufwiesen; und dass das Alibi von Nguyn Văn Chưởng trotz polizeilicher Anweisung nicht angemessen untersucht wurde, dies beinhaltete z. B. die Ortung seines Handys, die bestätigen könnte, dass er zum Tatzeitpunkt nicht vor Ort war.

Statistiken über die Anwendung der Todesstrafe gelten in Vietnam nach wie vor als Staatsgeheimnis. Es werden weiterhin Todesurteile wegen Mordes, Drogendelikten und Wirtschaftsverbrechen wie Veruntreuung verhängt. Es gibt nur wenige Medienberichte über Hinrichtungen, doch Amnesty International ist der Überzeugung, dass jedes Jahr zahlreiche Hinrichtungen vollstreckt werden.

Folter und andere Misshandlungen sind nach dem Völkerrecht streng verboten, in Vietnam jedoch nach wie vor gängige Praxis. Vietnam ist Vertragsstaat des IPbpR und hat das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention) ratifiziert. Als Vertragsstaat dieser Übereinkommen ist Vietnam verpflichtet, dafür zu sorgen, dass niemand Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe ausgesetzt ist, und dass "Aussagen, die nachweislich durch Folter herbeigeführt worden sind, nicht als Beweis in einem Verfahren verwendet werden, es sei denn gegen eine der Folter angeklagte Person als Beweis dafür, dass die Aussage gemacht wurde." UN-Schutzmechanismen für zum Tode verurteilte Personen schreiben vor, dass die Todesstrafe nur dann verhängt werden darf, wenn die Schuld der angeklagten Person in eindeutiger und überzeugender Weise, die keine andere Erklärung des Sachverhalts zulässt, nachgewiesen wurde.