Tunesien: Ex-Minister wegen Kritik in Haft

Porträtfoto von Noureddine Bhiri, der eine Brille trägt und in die Kamera lächelt. Im Hintergrund hängt die tunesische Flagge an der Wand.

Der ehemalige tunesische Justizminister Noureddine Bhiri (undatiertes Foto)

Am 13. Februar wurde Noureddine Bhiri, ein ehemaliger Justizminister und führendes Mitglied der Oppositionspartei Ennahda, erneut festgenommen. Sicherheitskräfte durchsuchten sein Haus in Tunis und am folgenden Tag wurde er wegen kritischer öffentlicher Äußerungen vor Gericht befragt. Er befindet sich seither in Untersuchungshaft und es ist bisher weder Anklage gegen ihn erhoben noch ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden. Noureddine Bhiri muss umgehend freigelassen und die konstruierten Vorwürfe gegen ihn müssen fallengelassen werden, da sie sich lediglich auf die friedliche Ausübung seiner Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit beziehen.

Appell an

Präsident

Kais Saied

Route de la Goulette

Site archéologique de Carthage

TUNESIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Tunesischen Republik

S.E. Herrn Wacef Chiha

Lindenallee 16

14050 Berlin


Fax: 030-3082 06 83

E-Mail: at.berlin@tunesien.tn

Amnesty fordert:

  • Lassen Sie Noureddine Bhiri bitte umgehend frei und lassen Sie alle konstruierten Vorwürfe gegen ihn fallen.
  • Sorgen Sie bis zu seiner Freilassung bitte dafür, dass er jede erforderliche medizinische Behandlung erhält und regelmäßig Besuch von seiner Familie und seinen Rechtsbeiständen empfangen darf.

Sachlage

Am Abend des 13. Februar 2023 drangen Angehörige der nationalen Anti-Terror-Einheit in das Haus von Noureddine Bhiri in Tunis ein und durchsuchten es. Der ehemalige Justizminister, der eine leitende Funktion in der Oppositionspartei Ennahda innehat und der tunesischen Anwaltskammer angehört, wurde ohne offiziellen Haftbefehl festgenommen. Seine Frau Saida Akremi, die als Anwältin tätig ist, war bei der Festnahme anwesend. Ihr zufolge legten die Sicherheitskräfte zwar einen Durchsuchungsbefehl vor, nicht aber einen Haftbefehl. Saida Akremi gab zudem an, dass einige Sicherheitskräfte Noureddine Bhiri bei seiner Festnahme schlugen, wodurch er an der Schulter verletzt wurde. Er wurde in das Bouchoucha-Haftzentrum in Tunis gebracht, wo er eine Nacht verbrachte. Die Sicherheitskräfte ignorierten seine Bitte, wegen der Schläge, denen er während seiner Festnahme ausgesetzt war, umgehend medizinisch versorgt zu werden.

Am 14. Februar erschien Noureddine Bhiri vor einem*r Ermittlungsrichter*in in Tunis. Aufgrund seines Gesundheitszustands weigerte er sich, befragt zu werden. Dennoch bestand der*die Richter*in darauf, eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn einzuleiten. Er wurde beschuldigt, gemäß Paragraf 72 des Strafgesetzbuchs "versucht zu haben, einen Wechsel der Staatsform herbeizuführen; bzw. die Menschen dazu aufzurufen, mit Waffen gegeneinander vorzugehen; bzw. Unruhen, Mord oder Plünderungen auf tunesischem Boden zu provozieren". Bei einem Schuldspruch könnte ihm die Todesstrafe drohen. Das Gericht ordnete seine Inhaftierung an und er befindet sich seither in Untersuchungshaft. Am 30. August verwies eine Anklagekammer des Berufungsgerichts Tunis den Fall von Noureddine Bhiri an eine*n Ermittlungsrichter*in des Gerichts erster Instanz in Tunis, um die gegen ihn vorliegenden Beweise zu bestätigen. Bisher ist weder Anklage erhoben noch ein Verfahren eröffnet worden.

Die gegen Noureddine Bhiri erhobenen Vorwürfe hängen mit einem Facebook-Post vom Januar 2023 zusammen, der nicht mehr existiert, sowie mit öffentlichen Äußerungen auf Video, die die Behörden ihm zuschreiben. In dem Facebook-Post erklärte Noureddine Bhiri, dass "richtiger Widerstand notwendig ist" und dass "die Menschen keine Angst vor dem Putsch haben sollten". Kritik an den Behörden fällt unter das Recht auf Meinungsfreiheit, wie in Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Artikel 9 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker verankert, deren Vertragsstaat Tunesien ist.

Noureddine Bhiri ist bereits in der Vergangenheit willkürlich festgenommen und unter Hausarrest gestellt worden. Am 31. Dezember 2021 wurden er und Fathi Beldi, ein ehemaliger Angestellter des Innenministeriums, von Männern in Zivilkleidung festgenommen und zwei Tage lang an einem unbekannten Ort festgehalten. Am 2. Januar 2022 stellten die Behörden beide Männer unter Hausarrest. Am 7. März 2022 hob das Innenministerium den Hausarrest auf. Die Behörden erhoben letztlich keine Anklage und setzten beide Männer wieder auf freien Fuß.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Noureddine Bhiri ist führendes Mitglied von Ennahda, der größten tunesischen Oppositionspartei, und ehemaliger Justizminister, der von 2011 bis 2013, nach der Amtsenthebung von Präsident Zine el Abidine Ben Ali und nach den Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung, in der Koalitionsregierung tätig war. Er ist Anwalt und Mitglied der tunesischen Anwaltskammer und war zudem lange Vizepräsident von Ennahda, eine politische Partei, die vor dem 25. Juli 2021 die Mehrheit im Parlament innehatte. Damals wurde die Partei von Präsident Kais Saied unter Berufung auf Notstandsbefugnisse gemäß Artikel 80 der Verfassung suspendiert. Seit der Parlamentsauflösung im Juli 2021 kritisiert die Partei Präsident Saieds Machtkonzentration und bezeichnet diesen Schritt als "Putsch".

Die Festnahme von Noureddine Bhiri am 13. Februar 2023 und seine anschließende Inhaftierung gehen auf kritische Online-Kommentare zurück, die er nach Angaben der Behörden am 8. Januar 2023 auf seiner privaten Facebook-Seite gepostet hatte. Ungefähr zur selben Zeit fand eine Demonstration statt, die von Mitgliedern der oppositionellen Nationalen Erlösungsfront (NSF) organisiert worden war. In dem Beitrag ruft Noureddine Bhiri zum "friedlichen Widerstand gegen den Putsch" auf. Weiter heißt es darin, dass "die Menschen keine Angst vor dem Putsch haben sollten und dass sie Führung brauchen". Gemäß internationaler Menschenrechtsnormen fällt der Facebook-Post unter das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Noureddine Bhiri ist Diabetiker und leidet unter hohem Blutdruck. Für beide Krankheiten nimmt er normalerweise regelmäßig Medikamente ein. Seine Gesundheit ist in Gefahr. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Verbot willkürlicher Inhaftierung sind völkerrechtlich verankert, unter anderem im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, deren Vertragsstaat Tunesien ist. Am 25. Juli 2021 löste Präsident Kais Saied das Parlament auf und berief sich dabei auf Notstandsbefugnisse aus der Verfassung von 2014. Seither sind gegen mindestens 74 Oppositionelle und andere vermeintliche Gegner*innen des Präsidenten strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Darunter befinden sich mindestens 44 Personen, denen in Verbindung mit der friedlichen Wahrnehmung ihrer Menschenrechte Straftaten vorgeworfen werden.