Katar: Lebenslange Haft für Rechtsanwälte

Zwei Porträtfotos von Hazza und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri, die traditionelle Hemden und eine traditionelle Kopfbedeckung tragen.

Die Brüder und Anwälte Hazza (links) und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri aus Katar (undatierte Fotos)

Am 10. Mai verurteilte das katarische Strafgericht erster Instanz die Brüder Hazza und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri zu lebenslanger Haft. Die beiden Rechtsanwälte wurden für schuldig erklärt, vom Emir ratifizierte Gesetze kritisiert und unerlaubte öffentliche Versammlungen organisiert zu haben. Neben ihnen wurden zwei weitere Männer in Abwesenheit zu lebenslanger bzw. zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die katarischen Behörden müssen alle vier Verurteilungen und Haftstrafen aufheben und die beiden Rechtsanwälte unverzüglich freilassen.

Appell an

H.E. Masoud bin Mohamed al-Ameri

Ministry of Justice

P.O. Box: 917

Doha, KATAR

Sende eine Kopie an

Botschaft des Staates Katar

S.E. Herrn Abdulla Mohammed S. A. Al-Thani


Hagenstraße 56

14193 Berlin


Fax: 030-862 061 50

E-Mail: berlin@mofa.gov.qa

 

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie höflich auf, die Verurteilungen und Haftstrafen der vier Männer aufzuheben. Bitte lassen Sie Hazza bin Ali Abu Shurayda al-Marri und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri umgehend frei. Sie befinden sich allein deswegen in Haft, weil sie friedlich ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausgeübt hatten.
  • Bis zu ihrer Freilassung muss ihnen der Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen und ihrer Familie sowie der Zugang zu jedweder benötigten medizinischen Behandlung gewährt werden.

Sachlage

Am 10. Mai fällte das erstinstanzliche Strafgericht in Doha die Urteile gegen vier Mitglieder des al-Murra-Stamms. Das Gericht verurteilte die Rechtsanwälte und Brüder Hazza und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri zu lebenslanger Haft. Außerdem verhängte es eine lebenslange Haftstrafe sowie eine 15-jährige Haftstrafe gegen zwei weitere Männer, die bei der Gerichtsverhandlung nicht anwesend waren. Sämtliche Verfahren waren durch eine Reihe von Verstößen gegen ordnungsgemäße Gerichtsverfahren gezeichnet. Alle vier Männer wurden allein wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit verurteilt.

Die Anklagen lauteten unter anderem auf: "Kritisieren und Ablehnen der vom Emir ratifizierten Gesetze und Entscheidungen", "Einsatz von Drohungen und Sozialen Medien, um den Emir dazu zu drängen, seine Arbeit im Rahmen seiner rechtlichen Befugnisse zu verrichten", "Ausführen von Aktionen, die die staatliche Unabhängigkeit beeinträchtigen", "Unerlaubtes Einberufen und Organisieren einer öffentlichen Versammlung" sowie "Verletzung gesellschaftlicher Werte und Prinzipien" aufgrund Online-Aktivitäten und der Nutzung von Sozialen Medien. Diese Vorwürfe beziehen sich auf Reden und Gedichte, die die vier Männer verfasst, bzw. im Internet veröffentlicht hatten. In diesen Texten kritisierten sie das im letzten Jahr eingeführte Wahlrecht, das u. a. die Angehörigen des al-Murra-Stammes diskriminiert. Die vier Männer forderten darin eine gleichberechtigte politische Teilhabe.

Emir Tamim bin Hamad bin Khalifa Al Thani ratifizierte im Juli 2021 das besagte Gesetz, das erstmals Wahlen ermöglichte, um 30 der insgesamt 45 Mitglieder des Schura-Rats zu bestimmen. Anfang August 2021 protestierten Angehörige des al-Murra-Stamms und anderer Bevölkerungsgruppen dagegen, dass Tausende von ihnen von den Abstimmungen und Wahlen zum Schura-Rat ausgeschlossen waren.

Hazza al-Marri war an den Protesten beteiligt und stellte am 8. August 2021 eine an den Emir gerichtete Videobotschaft auf Twitter, in der er das neu verabschiedete Gesetz kritisierte. Zwei Tage später, am 10. August 2021, nahmen Angehörige der Kriminalpolizei Hazza al-Marri bei sich zuhause fest. Die katarischen Behörden nahmen seinen Bruder Rashed al-Marri am 11. August 2021 fest, nachdem er versucht hatte, Hazza al-Marri rechtlich zu vertreten. Beide Männer befanden sich seit ihrer Festnahme im August bis mindestens Ende März 2022 in Einzelhaft, was der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gleichkommt. Während dieser Zeit befragte die Staatsanwaltschaft beide, ohne dass ihre Rechtsbeistände anwesend waren. Die Gerichtstermine fanden hinter verschlossenen Türen statt. Zudem durften ihre Rechtsbeistände die Gerichtsakten nur durchlesen; sie erhielten keine Kopien und konnten somit keine angemessene Verteidigung vorbereiten. Hazza und Rashed al-Marri haben das Recht, gegen ihre Verurteilung Rechtsmittel einzulegen.

Bei den beiden anderen Männer, deren Gerichtsverhandlungen in Abwesenheit stattfanden, handelt es sich um die Dichter Mohammed Hamad Mohammed Ftais al-Marri, der zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, und Mohammed Rashed Hassan Nasser al-Ajami (auch bekannt als Ibn al-Dheeb) der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Letzterer ist ein ehemaliger gewaltloser politischer Gefangener, für den sich Amnesty International bereits zuvor eingesetzt hat (UA-319/2012-4).

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 29. Juli 2021 ratifizierte der Emir nach langer Verzögerung das Gesetz Nr. (6) 2021 über die Wahlen zum Schura-Rat. Die entsprechenden Pläne waren bereits 2003 gutgeheißen worden, als nach einem Referendum die Verfassung angepasst wurde. Das neue Wahlgesetz unterteilt katarische Bürger_innen in drei Kategorien: 1.) Katarer_innen (18-jährig und älter), deren Großväter in Katar geboren sind: Sie können in den Distrikten, in denen ihr Stamm oder ihre Familien wohnhaft sind, abstimmen. Wenn sie 30 Jahre oder älter sind, dürfen sie auch für den Schura-Rat kandidieren. 2.) Bürger_innen, die die katarische Staatsbürgerschaft erlangt haben: Sie können in den Distrikten, in denen ihre Familien oder ihr Stamm wohnen, abstimmen – sofern ihr Großvater Katarer ist und in Katar geboren wurde. Sie dürfen sich jedoch nicht für den Schura-Rat aufstellen lassen. 3.) Eingebürgerte, die nicht belegen können, dass ihre Großväter in Katar geboren wurden: Sie haben weder das Recht, abzustimmen, noch das Recht, für den Schura-Rat zu kandidieren.

Am 7. August 2021 protestierten verschiedene Stammesangehörige, hauptsächlich Angehörige des al-Murra-Stamms, in Doha gegen das oben ausgeführte diskriminierende Staatsbürgerschaftsrecht, das sie von der Wahl des Schura-Rats ausschließt. Am nächsten Tag gab das Innenministerium bekannt, dass sieben Männer festgenommen und der Staatsanwaltschaft übergeben worden waren. Die Vorwürfe lauteten auf "Missbrauch der Sozialen Medien zur Verbreitung von Falschnachrichten und Anheizen von ethnischen und Stammeskonflikten".

Am 11. August 2021 kamen Stammesräte und Behörden zu einer Übereinkunft, woraufhin weitere Proteste abgesagt wurden. Laut Angehörigen des al-Murra-Stamms hatte der Emir versprochen, die Anliegen der Protestierenden zu berücksichtigen.

Im August und September 2021 kam es jedoch zu weiteren Festnahmen. Viele der Festgenommenen wurden erst freigelassen, nachdem sie eine Erklärung unterschrieben hatten, in der sie versprachen, weder über ihre Inhaftierung zu sprechen noch das neue Gesetz zu kritisieren oder ihre Rechte weiterhin einzufordern. Hazza und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri weigerten sich, diese Erklärung zu unterzeichnen.

Der al-Murra-Stamm ist einer der größten Stämme im östlichen Saudi-Arabien und in Katar. Seine Angehörigen sind seit langem von Diskriminierung betroffen und haben keinen Zugang zu Ausbildung, Arbeit oder Gesundheitsversorgung. 2004 und 2005 entzogen die katarischen Behörden dem gesamten al-Ghufran-Clan, einem Zweig des al-Murra-Stamms, die katarische Staatsbürgerschaft. Insgesamt waren über 5.000 Menschen davon betroffen. Führende Stammesangehörige wurden beschuldigt, an einem (erfolglosen) Gegenputsch beteiligt zu sein, nachdem Scheich Hamad – der Vater des jetzigen Emirs – seinen Vater 1995 in einem unblutigen Staatsstreich abgesetzt hatte. Den Vorwürfen zufolge sollen sie im Geheimen zudem die saudische Staatsbürgerschaft innegehabt haben. Unter katarischem Recht ist die doppelte Staatsbürgerschaft verboten. Die Maßnahme wurde jedoch für die Mehrheit wieder rückgängig gemacht, als die Behörden zu dem Schluss kamen, dass nur ein kleiner Teil des al-Ghufran-Clans direkt in den Coup involviert gewesen war.