Kanada: Gerechtigkeit für indigene Kinder

Das Bild zeigt zwei Kinder bei einer Demonstration, wie so vor einem Berg aus Kinderschuhen sitzen

Kundgebung am 6. Juni 2021 in der kanadischen Stadt Toronto in Gedenken an die 215 indigenen Kinder, deren menschliche Überreste auf dem Gelände eines ehemaligen Internats gefunden wurden.

Am 27. Mai wurden auf dem Gelände eines ehemaligen Internats in Kamloops (Provinz British Columbia) die menschlichen Überreste von 215 indigenen Kindern gefunden. Auch auf dem Gelände des früheren Internats von Brandon (Provinz Manitoba) wurden sterbliche Überreste von Kindern gefunden. Es wird mit weiteren Funden auf dem Gelände von Internatsschulen in ganz Kanada gerechnet. Die kanadische Regierung muss umgehend die Umstände klären lassen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und die indigenen Bevölkerungsgruppen Kanadas vor weiteren Diskriminierungen schützen.

Appell an

Prime Minister Justin Trudeau

Office of the Prime Minister and Privy Council


80 Wellington St, Ottawa,

ON K1P 5K9, 


CANADA

Sende eine Kopie an

Botschaft von Kanada

S.E. Herr Stéphane

Dion Leipziger Platz 17

10117 Berlin

Fax: 030-2031 2590

E-Mail: brlin@international.gc.ca

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie höflich auf, Ermittlungen zum Tod der indigenen Kinder im früheren Internat von Kamloops und anderen Internaten und Tagesschulen in Kanada aufzunehmen und die Verantwortlichen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
  • Finanzieren Sie bitte in vollem Umfang die Untersuchung der Grabstätten auf dem Gelände weiterer Internate und Tagesschulen, wenn betroffene Gemeinschaften dies veranlassen möchten, und stellen Sie sicher, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu diesen Geländen gemäß ihren Gesetzen und Bräuchen kontrollieren können.
  • Dringen Sie bitte weiter darauf, dass die katholische Kirche alle Berichte und Fotos im Zusammenhang mit den Internaten freigibt und versuchen Sie erneut, eine Entschuldigung und Entschädigungen für die Überlebenden und ihre Familien zu erwirken.
  • Setzen Sie bitte die Forderungen aus dem Spirit Bear Plan der First Nations Kinder- und Familiengesellschaft (First Nations Child and Family Caring Society of Canada) um.
  • Bitte finanzieren Sie in vollem Umfang psychologische und andere Gesundheitsdienstleistungen, um die indigenen Bevölkerungsgruppen in Absprache mit ihren Wünschen darin zu unterstützen, die Traumata zu verarbeiten, die koloniale Politiken und Praktiken bei ihnen verursacht haben.
  • Setzen Sie bitte die 94 Forderungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission um.

Sachlage

Am 27. Mai 2021 wurden auf dem Gelände eines ehemaligen Internats in der Nähe der Stadt Kamloops in British Columbia die sterblichen Überreste von 215 indigenen Kindern gefunden. Das Internat liegt in einem Territorium der First Nations (indigene Bevölkerung Nordamerikas) und wurde von Kindern der Tk’emlups te Secwépemc besucht. Sie und viele weitere indigene Kinder wurden bis 1996 von ihren Eltern getrennt und in Internaten untergebracht, um sie von ihrer Herkunftskultur und -sprache abzuschneiden. Die Internate waren Teil einer Kolonialpolitik, die die Ausrottung indigener Kulturen, Sprachen und Gemeinschaften zum Ziel hatte. Die letzte dieser Schulen schloss 1996, doch die Traumata der Betroffenen und die damit verbundenen Einschränkungen überdauern Generationen, und diskriminierende Praktiken bestehen bis heute. Amnesty International vertritt die Ansicht, dass es Unrecht war, die Kinder von ihren Eltern zu trennen. Die kanadische Regierung trägt Verantwortung für die diskriminierende Kolonialpolitik und Praktiken wie solche Internate. Sie muss diesen Teil der kanadischen Geschichte aufarbeiten und für die Menschenrechtsverletzungen an indigenen Bevölkerungsgruppen Verantwortung übernehmen.



Angehörige der First Nations in Kanada müssen Gerechtigkeit erfahren. Entsprechende Forderungen haben sie im Spirit Bear Plan aufgestellt. Um Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit sicherzustellen – nicht nur für die 215 Kinder, deren sterbliche Überreste auf dem Gelände des Internats für indigene Kinder in Kamloops begraben wurden, sondern für alle First Nations, Métis (europäisch-indigener Herkunft) und Inuit – muss Kanada umgehend konkrete Maßnahmen ergreifen. Nähere Informationen zum Spirit Bear Plan der Organisation Family Caring Society of Canada finden Sie hier und zu den 94 Forderungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission hier.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Aufgrund diskriminierender kolonialer Politik sind Métis-, Inuit- und First-Nation-Kinder weiterhin überproportional im Kinderfürsorgesystem vertreten. Für die Gesundheitsversorgung und Bildung von Kindern der First Nations, die in Reservaten leben, wird in Kanada weniger Geld bereitgestellt, als für andere Kinder im Land. Indigene Frauen, Mädchen und Two-Spirit-Personen erleben extrem viel Gewalt. Inuit, Métis und First Nations erfahren ebenfalls oft rassistische Diskriminierung, wenn sie mit Vertreter_innen staatlicher Institutionen wie der Polizei oder dem Gesundheitswesen zu tun haben. Die kanadische Regierung stimmt häufig Industrieprojekten auf indigenen Territorien zu, ohne die freiwillige, vorherige und informierte Zustimmung der Betroffenen einzuholen oder indigene Gesetze und wissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen.



Die Berichte der Royal Commission on Aboriginal Peoples von 1996, der Wahrheits- und Versöhnungskommission von 2015, die Staatliche Untersuchung zu vermissten und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen von 2019 sowie zahlreiche Überprüfungen der UN und anderer internationaler Menschenrechtsgremien dokumentieren das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Bevölkerungsgruppen in Kanada. Außerdem enthalten sie Tausende Empfehlungen, um Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit für die indigene Bevölkerung sicherzustellen.