Massengräber zerstört

Karte des Iran

Karte des Iran

In den 1980er Jahren wurden in Ahvaz, einer Stadt im Süden Irans, Dissident_innen Opfer des Verschwindenlassens und außergerichtlich hingerichtet. Ihre Familien leiden noch immer, und nun wollen die iranischen Behörden die Einzel- und Massengräber ihrer Angehörigen zerstören. Die Familien fürchten zudem weitere Verfolgungen, wenn sie dagegen protestieren.

Appell an

Bürgermeister von Ahvaz

Mansour Katanbaf

City Council, Amanieh street,

Sepah Avenue, Ahwaz

IRAN

Sende eine Kopie an

Aussenminister

Mohammad Javad Zarif 

c/o Permanent Mission of Iran to the United Nations in Geneva

Chemin du Petit-Saconnex 28

1209 Geneva, SCHWEIZ

 

Botschaft der Islamischen Republik Iran

S. E. Herrn Ali Majedi

Podbielskiallee 65-67

14195 Berlin

Fax: 030 84 353 133

E-Mail: info@iranbotschaft.de

Amnesty fordert:

  • Stoppen Sie bitte sofort die Zerstörung der Einzel- und Massengräber der Opfer der Massentötungen der 1980er Jahre und respektieren Sie bitte das Recht der Familien, ihre Angehörigen in Würde zu begraben.
  • Beenden Sie bitte die Schikane gegen die Familien, die nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung suchen, führen Sie bitte ein gründliches, unabhängiges und wirksames strafrechtliches Ermittlungsverfahren der Fälle des Verschwindenlassens und der außergerichtlichen Hinrichtungen der 1980er durch, einschließlich der Bemühungen, die Verbrechen zu vertuschen, und stellen Sie diejenigen in einem fairen Verfahren ohne Rückgriff auf die Todesstrafe vor Gericht, die der strafrechtlichen Verantwortung verdächtigt werden.
  • Erkennen Sie bitte an, dass es sich bei Massengräbern um Tatorte handelt, die forensisches Fachwissen erfordern, um die Exhumierungen durchzuführen und die Identität der sterblichen Überreste und die Umstände des Geschehens festzustellen, und ermöglichen Sie es bitte den Familien, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu erhalten.

Sachlage

Die iranischen Behörden bauen im in der Provinz Chuzestan liegenden Ahvaz eine Straße über ein Massengrab und Dutzende Einzelgräber. In ihnen befinden sich die sterblichen Überreste der Dissident_innen und Opfer des Verschwindenlassens, die in den 1980er Jahren, während der Massentötungen 1988 und in außergerichtlichen Hinrichtungen getötet wurden. Seit dem 20. Juli 2018 sind Foto- und Videobweise aufgetaucht, die zu zeigen scheinen, dass die Betonstruktur des Massengrabes sowie Dutzende von Einzelgräbern zertrümmert wurden. Die Gräber liegen nun unter Bergen von Schmutz und Trümmern. Einem offiziellen Schild auf dem Gelände zufolge sollen dort ein "Boulevard" und eine 8,5 Hektar große Parkanlage gebaut werden. Auf dem Schild steht außerdem, dass das Projekt von der Gemeinde Ahvaz beaufsichtigt wird.

Die Familien der Opfer in Ahvaz erfuhren erstmals im Mai 2017 von dem Bauprojekt. Amnesty International erhielt Informationen von Menschenrechtsverteidiger_innen außerhalb des Iran, denen zufolge Beamt_innen den Familien zuvor versprochen hatten, dass die Straße nicht über die Einzel- und Massengräber führen würde. Als die Familien jedoch am 20. Juli 2018 das Gelände besuchten, mussten sie feststellen, dass die Behörden die Gräber zerstört hatten. Ein Augenzeuge berichtete, dass in den folgenden Tagen Stacheldraht um das Gelände gelegt wurde und es nun unter strenger Bewachung steht. Die Zerstörung der Gräber folgt einer drei Jahrzehnte andauernden Geschichte des Verschwindenlassens durch die Behörden. Die Wahrheit über das Schicksal und den Verbleib der Opfer der außergerichtlichen Hinrichtungen von 1988 wurde verschleiert und den Familien das Recht verweigert, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen gemäß ihrer Traditionen zu beerdigen. Stattdessen wurde die Grabstätte in eine Müllhalde verwandelt, Trauerrituale verboten und jede kritische öffentliche Diskussion unterbunden. Das Leid, das den Familien mit dem Verschwindenlassen und der heimlichen Hinrichtung ihrer Angehörigen, mit der Verschleierung ihres Verbleibs und der Entweihung ihrer Gräber zugefügt wird, ist eine Form der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die unter dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verboten ist.

Hintergrundinformation

Hintergrund

In den frühen 1980er Jahren exektuierten die Behörden der neu gegründeten Islamischen Republik Tausende Dissident_innen, darunter auch gewaltlose politische Gefangene, ohne Verfahren oder nach eklatant unfairen und chaotischen "Prozessen", die in Gefängnissen stattfanden und nur wenige Minuten dauerten. Statt den Familien die Leichname auszuhändigen, verwiesen die Behörden sie häufig auf Einzelgäber am Rande von Friedhöfen und sagten ihnen, dass ihre Angehörigen dort begraben seien.

Tausende wurden zudem zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die oft wegen ihres friedlichen Dissens verhängt wurden, darunter auch wegen der Verteilung von Zeitungen und Flugblättern und der tatsächlichen oder angenommenen Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Oppositionsgruppen. Viele dieser Gefangenen blieben bis zu den Massentötungen und dem Verschwindenlassen von 1988 inhaftiert. Beides begann kurz nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs und einem erfolglosen bewaffneten Überfall der damals im Irak ansässigen Volksmudschaheddin (People’s Mojahedin Organization of Iran), einer verbotenen Oppositionsgruppe, die sich für den Sturz der Islamischen Republik einsetzte. Gefangene im ganzen Land wurden ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und über Monate gab es keine Nachrichten von ihnen. Unter den Angehörigen kursierten Berichte, denen zufolge Gefangene in Gruppen hingerichtet und in anonymen Massengräbern begraben wurden. Verzweifelte Familienangehörige durchsuchten die Friedhöfe nach Anzeichen frisch ausgehobener Gräber. Ab Ende des Jahres 1988 wurden die betroffenen Familien mündlich von Justizbehörden oder Gefängnisbeamt_innen über die Hinrichtung ihrer Angehörigen informiert. Die Leichname wurden den Familien jedoch nicht ausgehändigt und die Orte der Gräber meist nicht offengelegt. Bis heute ist die Zahl der Opfer der Massentötungen von 1988 nicht bekannt; Menschenrechtsorganisationen gehen von mindestens 4.000 bis 5.000 Getöteten aus. Gegen keinen iranischen Staatsbediensteten wurden Ermittlungen eingeleitet und niemand wurde je vor Gericht gestellt. Einige derjenigen, die mutmaßlich strafrechtliche Verantwortung tragen, haben weiterhin einflussreiche Positionen inne, darunter im Justizwesen und im Justizministerium.