Brasilien: Kein Sicherheitsgesetz im Eilverfahren!

Das Foto zeigt eine Frau mit Faceschild und Gesichtsmaske auf einer Straße. Im Hintergrund stehen eine Reihe bewaffneter Polizisten.

In den kommenden Tagen soll der brasilianische Nationalkongress über einen Dringlichkeitsantrag zur Bearbeitung des Gesetzentwurfs Nr. 6.764/2002 abstimmen – ohne öffentliche Konsultation. Dieser Gesetzentwurf basiert auf einer Sicherheitsdoktrin aus der Zeit der Militärdiktatur und droht, die Menschenrechte in Brasilien weiter zu gefährden. Er wird vorgelegt, während das Land mit der bisher schwersten Phase der Corona-Pandemie zu kämpfen hat.

Appell an

Arthur Lira

President of the Chamber of Deputies


National Congress

Gabinete 942, Anexo IV

Brasília, Distrito Federal

BRASILIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Föderativen Republik Brasilien

S. E. Herrn Roberto Jaguaribe Gomes De Mattos

Wallstraße 57

10179 Berlin


Fax: 030-726 283 20 oder 030-726 283 21

E-Mail:
brasemb.berlim@itamaraty.gov.br

Amnesty fordert:

  • Setzen Sie sich dafür ein, dass vor der Abstimmung eine öffentliche Konsultation und Debatte über die Auswirkungen des Gesetzentwurfs Nr. 6.764/2002 stattfinden kann.
  • Bitte stellen Sie sicher, dass alle Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit Gesetzen, die eine derartige Auswirkung auf die Menschenrechte haben könnten, auf dem Prinzip der Transparenz und dem Recht auf Information beruhen und eine sinnvolle und wirksame Beteiligung der betroffenen Parteien einschließen.

Sachlage

Im brasilianischen Kongress wird noch im April eine Abstimmung über den Dringlichkeitsantrag zur Bearbeitung des Gesetzentwurfs Nr. 6.764/2002 stattfinden. Dieser soll zwar das Nationale Sicherheitsgesetz ersetzen, das während der Militärdiktatur erlassen und systematisch zur Verfolgung von Regimegegner_innen eingesetzt wurde. Allerdings enthält der Gesetzentwurf neue Straftatbestände, die zur verstärkten Kriminalisierung von sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eingesetzt werden könnten.

Der Dringlichkeitsantrag zum Gesetzentwurf Nr. 6.764/2002 darf nicht angenommen werden. Die Verabschiedung dieses Gesetzes im Eilverfahren würde in der Praxis bedeuten, dass unter anderem Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen den Gesetzentwurf nicht angemessen analysieren und sich auch an keiner Debatte darüber beteiligen könnten.

Es ist bezeichnend, dass der Dringlichkeitsantrag für die Abstimmung über den genannten Gesetzentwurf in einer Zeit kommt, die durch zunehmende politische Gewalt, Anfeindungen gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und die Kriminalisierung sozialer Bewegungen gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund muss jedes Gesetz, das diese Thematik betrifft, in einer öffentlichen und transparenten Weise breit debattiert werden. Dies ist aktuell angesichts einer der schwersten Gesundheitskrisen in der Geschichte Brasiliens jedoch kaum möglich.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 24. März stellten die Abgeordneten Margarete Coelho (PP-Piauí) und Hugo Motta (Republicanos-Paraíba) einen Dringlichkeitsantrag zur Bearbeitung des Gesetzentwurfs Nr. 6.764/2002. Am 7. April erklärten die Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Pacheco (DEM-Minas Gerais) bzw. Arthur Lira (PP-Alagoas), dass die Annahme des Gesetzentwurfs zu den Prioritäten beider Kammern gehöre. Die Abstimmung über dieses Gesetz im Eilverfahren hieße in der Praxis, dass wesentliche Diskussionen und Prüfungen der Fachausschüsse nicht stattfinden würden. Ferner würde es bedeuten, dass die gesellschaftliche Beteiligung nicht als Teil des Prozesses betrachtet und daher nicht gewährleistet wird.

Der Gesetzentwurf greift einen Teil der Straftatbestände und Strafbestimmungen des Gesetzes über die nationale Sicherheit (7.170/1983) wieder auf, das während der Militärdiktatur erlassen und systematisch zur Verfolgung von sozialen Bewegungen und Menschenrechtsverteidiger_innen eingesetzt wurde. Damit verstößt der Entwurf gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Die Anwendung des nach wie vor gültigen Nationalen Sicherheitsgesetzes 7.170/1983 nimmt seit einiger Zeit wieder zu und ist Gegenstand von mindestens drei Verfassungsklagen (ADPF Ação de Descumprimento de Preceito Fundamental 797, 799 und 816) vor dem brasilianischen Bundesgerichtshof.

Der Gesetzentwurf wird vorgelegt, während sich Brasilien in der bisher schwersten Phase der Corona-Pandemie befindet und bereits mehr als 350.000 Todesfälle verzeichnet. Angesichts dieser extremen Lage stehen Staatsorgane wie der brasilianische Nationalkongress in der Pflicht, das Recht auf Gesundheit und Leben der Bevölkerung in besonderem Maße zu schützen. Dazu müssen, basierend auf präzisen wissenschaftlichen Erkenntnissen, notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ergriffen werden. Zudem muss sichergestellt werden, dass alle Menschen gleichberechtigt Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Insbesondere sind die Behörden verpflichtet, die Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und Qualität von Impfstoffen, Behandlungsmöglichkeiten und Covid-19-Tests sowie den Zugang zu diesen Mitteln für die gesamte Bevölkerung sicherzustellen. Dies sollte nach den Prinzipien der Transparenz, Teilhabe, Nachvollziehbarkeit, Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung geschehen.

Laut offiziellen Zahlen verzeichnete das Land in den vergangenen Tagen die höchste Sterberate seit Beginn der Pandemie. Vergangene Woche starben in Brasilien täglich mehr als 4.000 Menschen an den Folgen von Covid-19. In weniger als 15 Tagen fielen dort mehr als 25.000 Personen der Pandemie zum Opfer. Dies ist unter anderem den Versäumnissen der Behörden bei der Bekämpfung der Pandemie geschuldet. Laut der brasilianischen Organisation Fjocruz wird die Zahl der innerhalb eines Jahres registrierten 350.000 Pandemie-Toten in den kommenden Monaten exponentiell steigen. Da die Behörden nur unzureichende Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen haben, sind sie für vermeidbare Todesfälle verantwortlich.