Argentinien: Menschenrechtsverteidiger wegen Protest verurteilt

Eine Menschenmenge zieht mit Fahnen durch eine Straße. Die Personen an der Spitez der Demonstration halten ein sehr großes Banner vor sich.

Protest in in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gegen die Einschränkung des Demonstrationsrecht in der Region Jujuy (20. Juni 2023)

Der Menschenrechtsanwalt Alberto Nallar spielte bei den Protesten, die am 15. Juni in der Provinz Jujuy begannen, eine aktive Rolle und wird seither kriminalisiert. Er stand einen Monat lang unter Hausarrest, bis er am 18. August freigelassen wurde. Am 24. Oktober wurde er wegen "Aufwiegelung zu Verbrechen, Aufwiegelung zu gemeinschaftlicher Gewalt und Revolte oder Meuterei" zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde außerdem mit einem Pfandrecht und mit einem Berufsverbot als Anwalt belegt. Alberto Nallar wird gegen dieses Urteil Berufung einlegen.

Appell an

Generalstaatsanwalt der Provinz Jujuy

über

Botschaft der Republik Argentinien

S.E. Herrn Fernando Brun

Kleiststraße 23-26

10787 Berlin

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Botschaft der Republik Argentinien

S.E. Herrn Fernando Brun

Kleiststraße 23-26

10787 Berlin

Fax: 030-229 14 00

E-Mail: ealem@mrecic.gov

Amnesty fordert:

  • In Anbetracht der internationalen Verpflichtungen des argentinischen Staates, die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit aller Personen zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, fordere ich Sie auf, die Kriminalisierung von Alberto Nallar und weiteren Menschenrechtsverteidiger*innen einzustellen.

Sachlage

Die Verurteilung des Menschenrechtsanwalts Alberto Nallar ist eine Zuspitzung seiner Kriminalisierung und eine unangemessene Repressalie für die friedliche Teilnahme an einem Protest und die Ausübung seines Rechts auf Verteidigung der Menschenrechte.

In Jujuy wurden zwischen dem 11. und 13. Juli zahlreiche Festnahmen und Razzien in Privathäusern in Humahuaca und San Salvador durchgeführt, die sich gegen Lehrer*innen, Studierende und Menschenrechtsverteidiger*innen richteten, die an den sozialen Mobilisierungen im Zusammenhang mit der Verfassungsreform in der Provinz teilgenommen oder diese unterstützt hatten. Eine Delegation von Amnesty International fuhr nach Jujuy und befragte Demonstrierende und Menschenrechtsaktivist*innen. Dabei stellte sich heraus, dass viele dieser Festnahmen willkürlich erfolgten und Teil einer "feindlichen Stimmung" hinsichtlich der Ausübung des Rechts auf friedlichen Protest waren.

In diesem Kontext wurde Alberto Nallar am 13. Juli festgenommen. Er stand 37 Tage lang unter Hausarrest. Wie bereits erwähnt, wurde er kürzlich wegen des Verbrechens der Aufwiegelung zu einer Freiheitsstrafe von 42 Monaten verurteilt und mit einem Pfandrecht (das Gericht kann sein Eigentum pfänden, wenn er Strafen nicht bezahlen kann) sowie einem Berufsverbot belegt. Amnesty International ist beunruhigt, dass diese Verurteilung nicht nur eine Repressalie für Alberto Nallar ist, sondern auch eine abschreckende Wirkung auf die freie Meinungsäußerung in der Provinz hat, da Amnesty International immer wieder Berichte über drohende Haftbefehle gegen weitere Menschenrechtsverteidiger*innen erhält.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 15. Juni 2023 verabschiedete der Verfassungskonvent der nordargentinischen Provinz Jujuy den größten Teil einer Verfassungsreform, die nach Ansicht vieler überstürzt und ohne öffentliche Beteiligung durchgeführt wurde. Die Reform ignoriert die Perspektive der indigenen Bevölkerung – beispielsweise ein Verständnis des Kosmos und der Welt als geordnetem Ganzem (Kosmovision) – und hat das Potential, deren kollektive Rechte zu gefährden. Die Protestierenden werfen der örtlichen Regierung unter anderem vor, sich die Rechte über Rohstoffe in der an Bodenschätzen reichen Region mit ihren Lithium-Vorkommen aneignen zu wollen. Dieser Punkt in dem Gesetzestext wurde angesichts der Proteste zunächst ausgeklammert, doch die übrigen Teile der von Gouverneur Gerardo Morales vorangetriebenen Reform der Provinzverfassung wurden verabschiedet.

Die Polizei unterdrückte die Proteste, die auf die Verabschiedung der Teilreform der Provinzverfassung von Jujuy folgten, massiv. Es kam zu willkürlichen Inhaftierungen und exzessiven Gewaltanwendungen durch Beamt*innen. Die Reaktion der Sicherheitskräfte der Provinz Jujuy auf die Demonstrationen führte zu erheblichen Verletzungen der Rechte auf Leben, Freiheit, persönliche Unversehrtheit, friedliche Versammlung, Verteidigung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung, die alle durch internationales Recht anerkannt und geschützt sind. 

Die Proteste von Gemeinden, sozialen Organisationen und Menschenrechtsorganisationen in der Provinz Jujuy gehen weiter, da die Verfassungsänderungen nicht rückgängig gemacht wurden. Im September dieses Jahres besuchte eine Delegation von Amnesty International die Stadt San Salvador de Jujuy und die Bezirke Tumbaya, Cochinoca, Humahuaca und Susques in der Provinz Jujuy. Die Organisation befragte mindestens 107 Betroffene und Zeug*innen, darunter Mitglieder von mehr als 15 indigenen Gemeinschaften, Rechtsanwält*innen, Menschenrechtsorganisationen und lokale Behörden.

Amnesty International stellte eine unnötige und exzessive Gewaltanwendung fest, einschließlich des Einsatzes von Tränengas und Gummigeschossen bei Protesten, was in mehreren Fällen zu Verletzungen von Protestteilnehmenden führte. Amnesty International wurde auch mehrfach über Festnahmen von Personen berichtet, die lediglich an Demonstrationen teilgenommen haben, was einer willkürlichen Freiheitsberaubung gleichkommt. Berichtet wurde auch, dass die Opfer der staatlichen Repressionen keine Anzeige erstatten, weil sie Angst haben daraufhin aufgrund ihrer Teilnahme an den Protesten strafrechtlich verfolgt zu werden. Gleichzeitig dokumentierte die Organisation große Zurückhaltung seitens der Behörden bei der Untersuchung möglicher Übergriffe der Sicherheitskräfte während der Demonstrationen.

Der Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger Alberto Nallar hatte die Mobilisierung gegen die Verfassungsreform unermüdlich unterstützt und dabei sowohl Inhaftierten als auch deren Familien Rechtsbeistand geleistet. Der Straftatbestand der Aufwiegelung, der ihm vorgeworfen wird, ist ein Straftatbestand, der im Land häufig angewandt wird, um Personen zu kriminalisieren, die ihr Recht auf sozialen Protest wahrnehmen. Ähnliches gilt für Vorwürfe wie das Blockieren öffentlicher Straßen, Anstiftung zu Straftaten oder Widerstand gegen die Staatsgewalt. Er wurde am 24. Oktober vom Strafgericht Nr. 3 von Jujuy verurteilt. Er wurde nicht inhaftiert, da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Alberto Nallar wird gegen die Entscheidung des Gerichts Berufung einlegen.