Afghanistan: Gewalt gegen Menschenrechtler_innen

Mehrere Menschen mit blauen Plakaten protestieren, im Vordergrund ein Sprecher mit Mikrofon

Afghanische Protestierende in der Provinz Kandahar fordern Frieden und ein Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen, 17. Januar 2019.

Menschenrechtsverteidiger_innen in Afghanistan werden sowohl von den Behörden als auch von bewaffneten Gruppen bedroht, schikaniert, eingeschüchtert und getötet oder zur Flucht aus dem Land gezwungen. Mittels eines Präsidialdekrets wurde im Dezember 2020 eine Gemeinsame Kommission zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen eingerichtet – doch konkrete Fortschritte bei der Schaffung eines wirksamen Schutzmechanismus bleiben aus.

Appell an

H. E. Muhammad Sarwar Danish

Second Vice President

Islamic Republic of Afghanistan

Sadarate-Ozma 1001

Kabul

AFGHANISTAN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan

S.E. Herrn Yama Yari

Taunusstr. 3


14193 Berlin

Fax: 030-206 735 25

E-Mail: info@botschaft-afghanistan.de

Amnesty fordert:

  • Sorgen Sie bitte dafür, dass die Gemeinsame Kommission zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen ihre Arbeit aufnimmt und sich unverzüglich und effektiv mit den unmittelbaren und den langfristigen Schutzbedürfnissen von Menschenrechtsverteidiger_innen befasst.
  • Veranlassen Sie, dass Angriffe und Drohungen gegen Menschenrechtler_innen nach internationalen Gesetzen zu fairen Gerichtsverfahren untersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Sorgen Sie außerdem dafür, dass Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen ergriffen werden und sie psychosoziale Unterstützung erhalten.

Sachlage

"Auf uns wurde eine Tötungsmaschinerie losgelassen, und die sieht aus wie jeder andere Mensch auf der Straße", sagten afghanische Menschenrechtsverteidiger_innen, die weiterhin mit zunehmenden Angriffen seitens der Behörden und bewaffneter Gruppen zu kämpfen haben. Sie sind Einschüchterung, Schikanierung, Drohungen, tätlicher Gewalt und gezielten Tötungen ausgesetzt. Die weitere Verschlechterung ihrer Sicherheitslage gibt Anlass zur großen Sorge und die afghanische Regierung muss sofort aktiv werden, damit die Gemeinsame Kommission ihre Arbeit aufnehmen und sich um die Schutzbedürfnisse von Menschenrechtsverteidiger_innen kümmern kann.

Menschenrechtsaktivist_innen spielen schon lange eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung schwerer Menschenrechtsprobleme in Afghanistan. Die öffentliche Zusage des Vizepräsidenten im Januar 2020, einen auf der Strategie zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen in Afghanistan basierenden Schutzmechanismus einzurichten, war eine vielversprechende Entwicklung. Doch auch wenn es ermutigend war zu erfahren, dass im Dezember 2020 eine Gemeinsame Kommission für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen eingerichtet wurde, sind Monate vergangen und noch immer hat die Kommission ihre Arbeit nicht effektiv aufgenommen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewaltrate im ganzen Land hat sich der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum für Menschenrechtsverteidiger_innen drastisch verkleinert. Menschenrechtsaktivist_innen werden weiterhin auf offener Straße ermordet, und es ist an der Zeit zu handeln.

Der Anstieg der Zahl der Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger_innen in den letzten Monaten ist besorgniserregend. Trotz einiger Garantien in der afghanischen Verfassung und der Ratifizierung wichtiger UN-Menschenrechtsverträge werden Menschenrechtler_innen in Afghanistan nicht angemessen geschützt.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Nach zwei Jahren Recherche, Kampagnen und Lobbyarbeit von Amnesty International und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat die afghanische Regierung ein Präsidialdekret zur Einrichtung einer Gemeinsamen Kommission zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen erlassen. Doch trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage im Land sind mehr als drei Monate vergangen, ohne dass Schritte unternommen wurden, den Schutzmechanismus wirksam einzusetzen.

Im Dezember 2020, nur wenige Tage nach dem Erlass des Präsidialdekrets über den Schutzmechanismus, wurde die Frauenrechtsaktivistin Freshta Kohistani in der Provinz Kapisa von einer Gruppe Unbekannter erschossen. Einen Tag zuvor starb ein anderer bekannter Aktivist, Mohammad Yousuf Rasheed, als er in Kabul in einen Hinterhalt geriet und von Unbekannten erschossen wurde. Diese Vorfälle nehmen sowohl in Kabul als auch in anderen Provinzen zu, wo die Aktivist_innen meist auf offener Straße angegriffen werden. Darüber hinaus sorgen Briefbomben, Drohanrufe und verschiedene andere Einschüchterungstaktiken dafür, dass sich die Aktivist_innen und ihre Familien extrem gefährdet fühlen. Zudem sind zahlreiche Abschusslisten (Listen mit Personen, die getötet werden sollen) im Umlauf.

Aktuell wird über eine Wiederaufnahme der Friedensgespräche diskutiert, aber für die Afghan_innen sieht die Zukunft höchst ungewiss aus. Laut einem Sonderbericht der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) vom Februar 2021 gibt es eine "drastische und erschreckende Anzahl von Tötungen von Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist_innen in Afghanistan" – insgesamt 65 Menschenrechtler_innen wurden in den letzten beiden Jahren getötet.

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan garantiert wichtige Menschenrechte. In Artikel 6 der Verfassung heißt es, dass der Staat verpflichtet ist, "eine wohlhabende und fortschrittliche Gesellschaft zu schaffen, die auf sozialer Gerechtigkeit, der Wahrung der Menschenwürde und dem Schutz der Menschenrechte beruht". Die Artikel 21 bis einschließlich 59 garantieren die Menschenrechte, darunter das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Verbot von Folter, das Recht auf eine rechtliche Vertretung, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Vereinigung, das Recht auf friedliche Versammlung, das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit und das Verbot von Zwangsarbeit.

Afghanistan hat auch zahlreiche Menschenrechtsverträge ratifiziert, darunter das Übereinkommen gegen Folter und sein Fakultativprotokoll, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Frauenrechtskonvention, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Menschenrechtler_innen spielen in der afghanischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, indem sie sich z. B. für politische Bildung einsetzen, über die Menschenrechte aufklären, Menschenrechtsverstöße untersuchen und den Schutz der Menschenrechte fordern. Weil sie dies tun, sind sie Einschüchterung, Schikanierung, Drohungen und tätlicher Gewalt seitens der Behörden und bewaffneter Gruppen ausgesetzt. Im ganzen Land nimmt die Gewaltrate immer weiter zu und der zivilgesellschaftliche Raum für Menschenrechtsverteidiger_innen immer weiter ab. Dies dokumentierte Amnesty International in dem 2019 veröffentlichten Bericht Defenceless Defenders: Afghanistan’s Human Rights Community Under Attack.