Irak: Hunderte weiterhin vermisst

Bewohner der Stadt Ramadi auf der Flucht vor den heranrückenden Truppen des "Islamischen Staates" im Mai 2015

Bewohner der Stadt Ramadi auf der Flucht vor den heranrückenden Truppen des "Islamischen Staates" im Mai 2015

Mindestens 643 Männer und Jungen aus dem zentral-irakischen Gouvernment Al-Anbar werden seit fünf Jahren vermisst. Sie waren am 3. Juni 2016 von den irakischen Volksmobilisierungseinheiten (Al-Hashd al-Shaabi), einem regierungsnahen Milizenbündnis, entführt worden. Bis heute wissen die Familienangehörigen nicht, ob die Vermissten noch leben. Die irakischen Behörden haben bislang nichts unternommen, um diese Menschen ausfindig zu machen.

Appell an

Prime Minister of Iraq

Mustafa al-Kadhimi

IRAK

E-Mail: media.office@pmo.gov.iq

Twitter: @MAKadhimi

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Irak

Herrn Ahmed Ali Ameen Al-Sadi

Pacelliallee 19-21

14195 Berlin


Fax: (00 49) 30 814 88 222

E-Mail: beremb1@mofa.gov.iq

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie mit Nachdruck dazu auf, umgehend eine unabhängige und unparteiische Untersuchung des Verschwindenlassens der 643 Männer und Jungen durch die irakischen Volksmobilisierungseinheiten einzuleiten, um das Schicksal und den Aufenthaltsort der Vermissten aufzuklären.
  • Bitte geben Sie alle bisherigen Untersuchungsergebnisse öffentlich bekannt.
  • Sorgen sie zudem bitte dafür, dass die Familienangehörigen die Wahrheit über den Verbleib der Vermissten erfahren und eine Entschädigung erhalten.

Sachlage

Am Abend des 3. Juni 2016 wurden 1.300 Männer und Jungen Opfer des Verschwindenlassens, als sie mit ihrer Familie versuchten aus Saqlawiyah, einer Stadt im zentral-irakischen Gouvernement Al-Anbar, zu fliehen. Sie wurden von Volksmobilisierungseinheiten (Al-Hashd al-Shaabi), einem vom irakischen Staat ins Leben gerufene Milizenbündnis, entführt, um sie im Kampf einzusetzen. Mindestens 643 der 1.300 Männer und Jungen gelten weiterhin als vermisst – ein Verbrechen nach dem Völkerrecht. Ihre Familienangehörigen sind verzweifelt, weil sie keine Informationen über den Verbleib der Vermissten haben.



Laut glaubwürdigen Angaben von ehemals Entführten, Zeug_innen und Angehörigen der Vermissten traf die Gruppe der Männer und Minderjährigen auf eine bewaffnete Gruppe, die Maschinen- und Sturmgewehre bei sich trugen. Aufgrund der Embleme auf ihren Uniformen und Fahnen identifizierten Zeug_innen die bewaffnete Gruppe als Angehörige der irakischen Volksmobilisierungseinheiten. Die Männer und Jungen wurden von den Milizen vom Rest der Gruppe getrennt und in Gebäude, Garagen und verlassene Geschäfte in der Nähe der Stadt gebracht. Die Milizen nahmen ihnen ihre Ausweise, Handys und andere Wertsachen ab, und fesselten ihnen die Hände. Am Abend wurde ein Teil der Männer und Jungen dann in mehreren Bussen und einem großen Lastwagen weggebracht. Seither sind ihr Schicksal und ihr Aufenthaltsort unbekannt.



Am 5. Juni 2016 berief der damalige irakische Premierminister Haidar al-Abadi einen Ausschuss zur Untersuchung der Fälle des Verschwindenlassens und der Misshandlungen ein, welche im Zuge der Militäroperation zur Rückeroberung der irakischen Stadt Falludscha durch die irakische Regierung verübt wurden. Zudem gründeten die lokalen Regierungsbehörden von Al-Anbar einen weiteren Ausschuss, der in seinen Untersuchungsergebnissen angab, dass 643 binnenvertriebene Männer und Jungen aus Saqlawiyah vermisst würden. Bis heute haben die Ausschüsse keine vollständige Aufklärung über den Verbleib der 643 Vermissten erbracht.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Das Verschwindenlassen Hunderter Männer und Jungen aus der irakischen Stadt Saqlawiya im Juni 2016 war kein Einzelfall. Seit der Entstehung der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) und anderer bewaffneter Gruppierungen, darunter Al-Qaida, wurden Tausende sunnitische Männer und Jungen Opfer des Verschwindenlassens durch irakische Sicherheitskräfte und Milizen, die von staatlichen Stellen unterstützt werden. Seit Jahren hält im Irak ein bewaffneter Konflikt an, der die Bevölkerung großer Gefahr aussetzt und von zunehmenden religiösen Konflikten geprägt ist.



Der Irak gilt nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) weltweit als eines der Länder mit den meisten Vermissten. Die Zahl liegt vermutlich zwischen 250.000 und einer Million Vermissten. Amnesty International hat seit 2014 Dutzende Fälle des Verschwindenlassens in den irakischen Gouvernements Al-Anbar, Bagdad, Diyala und Salah al-Din dokumentiert. Am 21. September 2016 schickte Amnesty International Informationen über die 105 Einzelfälle des Verschwindenlassens, die zwischen September 2012 und August 2016 gemeldet wurden, an den damaligen irakischen Premierminister Haider al-Abadi. Amnesty International forderte den Premierminister auf, die Fälle umgehend und unabhängig zu untersuchen, um das Schicksal und den Aufenthaltsort der Betroffenen aufzuklären. Zudem wurde der irakische Präsident aufgefordert, die Verantwortlichen dieser Verbrechen in fairen Verfahren vor ein ordentliches Zivilgericht zu stellen.



Frühere Untersuchungen der irakischen Regierung der schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Volksmobilisierungseinheiten hatten nicht zu einer Wiedergutmachung oder Entschädigung für die Opfer geführt. Zum Beispiel verübten die Volksmobilisierungseinheiten am 26. Januar 2015 und am 11. Januar 2016 Hinrichtungen und andere Menschenrechtsverletzungen in dem irakischen Dorf Barwana und der Stadt Mugdadiya, im Gouvernement Diyala. Soweit Amnesty International bekannt ist, wurden die Ergebnisse der damaligen Untersuchung dieser Vorfälle weder veröffentlicht noch die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.



Der Irak gehört zu den Vertragsstaaten des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. Das irakische Gesetz über Massengräber sieht eine Untersuchung von Massengräbern durch einen zwischenstaatlichen Ausschuss vor, dem ein_e Richter_in angehören muss. Dennoch konnte bei Exhumierungen von Massengräben in den angrenzenden Regionen von Saqlawiyah durch die Behörden nicht festgestellt werden, ob sich die 643 Vermissten unter den gefundenen sterblichen Überresten befinden.