Amnesty Report 24. April 2024

Regionalkapitel Europa und Zentralasien 2023

Ein Mann steht in der ukrainischen Stadt Odessa in den Trümmern eines Wohngebäudes, das durch einen russischen Raketenangriff komplett zerstört wurde (29. Dezember 2023).

Ein Mann steht in der ukrainischen Stadt Odessa in den Trümmern eines Wohngebäudes, das durch einen russischen Raketenangriff komplett zerstört wurde (29. Dezember 2023).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Osteuropa und Zentralasien

Die Menschenrechte und Freiheiten standen unter massivem und ständigem Druck, angeheizt durch den fortdauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine, der dem Autoritarismus in Osteuropa und Zentralasien Vorschub leistete. Regierungen verfolgten Menschenrechtsverteidiger*innen und unterdrückten kritische Stimmen. Die Einstufung freier Meinungsäußerungen und unabhängiger Menschenrechtsinformationen als "Fake News" oder als Versuche, politische Maßnahmen oder Institutionen zu "diskreditieren", machte diese in vielen Fällen faktisch strafbar. Die Aussichten im Hinblick auf eine wirksame Förderung der Menschenrechte und ihren Schutz waren denkbar schlecht.

Krieg wurde in der Region zur "neuen Normalität". Aserbaidschans Blockade der einzigen Straße, die in die abtrünnige Region Bergkarabach führte, löste eine humanitäre Krise aus, die das Leben Tausender Menschen gefährdete. Die anschließende aserbaidschanische Militäroffensive zwang mehr als 100.000 ethnische Armenier*innen, innerhalb weniger Tage nach Armenien zu fliehen.

Russlands fortgesetzte Angriffe auf die Ukraine weiteten sich zu einem Zermürbungskrieg aus, und die Zahl der Kriegsverbrechen und anderer völkerrechtlicher Verbrechen stieg unaufhörlich. Die vielen Toten und Verletzten, die Zerstörung von Wohnraum und wichtiger Infrastruktur, die massenhafte Vertreibung und die Umweltschäden infolge des Kriegs bedeuteten für die Zivilbevölkerung entsetzliches Leid, nicht zuletzt für Kinder.

Durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste Bemühungen, internationale Rechenschaftsmechanismen zu schaffen, die auch eine Handhabe gegen das Verbrechen der Aggression bieten würden, führten zu keinem Ergebnis. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) erließ einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser konnte jedoch Kasachstan, Kirgisistan und Saudi-Arabien besuchen, ohne verhaftet zu werden, weil diese Staaten das Römische Statut des IStGH nicht ratifiziert hatten.

Religiöse Minderheiten waren nicht nur im Zusammenhang mit militärischen Konflikten Diskriminierung und Repressalien ausgesetzt. Folter und andere Misshandlungen waren weiterhin an der Tagesordnung, und die dafür Verantwortlichen gingen straflos aus. Das Ausmaß geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt war weiterhin hoch. Bezüglich der Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) gab es Rückschläge. Luftverschmutzung, die hauptsächlich durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe verursacht wurde, beeinträchtigte in vielen Ländern die Gesundheit der Menschen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Hinblick auf das Recht auf Meinungsfreiheit wurde in Osteuropa und Zentralasien ein neuer Tiefpunkt erreicht, indem weitere Repressalien eingeführt wurden, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. In Russland reichten die Anschuldigungen von "Extremismus" über "Rechtfertigung von Terrorismus" und "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" bis hin zu "Propaganda für LGBTI+". Die Kriegszensur im Land erreichte ein neues Höchstmaß und unterdrückte jegliche kritische Äußerung. Tausende Menschen wurden bestraft, Hunderte grundlos zu Gefängnisstrafen verurteilt, wie der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa, der u. a. wegen "Hochverrats" eine 25-jährige Haftstrafe erhielt.

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In Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Tadschikistan und anderen Ländern befanden sich 2023 zahlreiche Regierungskritiker*innen in Haft. Ein Entwurf für ein Mediengesetz in Kirgisistan enthielt ein Verbot von "Materialien, die der Gesundheit und Moral der Bevölkerung schaden". In Turkmenistan wurden freie Informationen weiterhin unterdrückt, um jegliche Berichterstattung über Missstände wie den Mangel an Grundnahrungsmitteln oder Zwangsarbeit zu unterbinden.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

In Anlehnung an das rigorose Vorgehen in Russland wurde in zahlreichen Ländern der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft eingeschränkt, oder sie wurde völlig zum Schweigen gebracht. Die russischen Behörden stuften immer mehr Einzelpersonen und zivilgesellschaftliche Gruppen als "ausländische Agenten" oder "unerwünschte Organisationen" ein und beschränkten damit ihre Teilhabe am öffentlichen Leben. Eine Änderung des Strafgesetzbuchs machte die "Ausübung von Aktivitäten" ausländischer NGOs ohne eingetragenen Sitz in Russland strafbar. Damit wurde faktisch jede Art von Zusammenarbeit mit den meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen im Ausland kriminalisiert. Führende Menschenrechtsgruppen wie die Moskauer Helsinki-Gruppe, das Sacharow-Zentrum und das Sowa-Zentrum wurden geschlossen.

In Belarus wurden unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen unter dem Vorwurf des "Extremismus" geschlossen. Die Behörden stuften die Menschenrechtsorganisation Viasna im August 2023 als "extremistische Gruppierung" ein. Führende Mitglieder wurden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. In Kirgisistan markierte ein Gesetzentwurf über "ausländische Agenten", der sich am russischen Vorbild orientierte, einen neuen Tiefpunkt. Er stand 2023 kurz vor der Verabschiedung und hätte die Schließung zahlreicher NGOs zur Folge. In Moldau wurde Mitgliedern der Shansa-Partei willkürlich verwehrt, bei den Kommunalwahlen zu kandidieren.

Eine der wenigen positiven Entwicklungen zeigte sich in Georgien, wo Massenproteste dazu führten, dass die Regierung einen Gesetzentwurf zur "Transparenz ausländischer Einflussnahme" zurückzog.

Recht auf friedliche Versammlung

Behörden in der gesamten Region schränkten friedliche Straßenproteste massiv ein, die bereits zuvor in vielen Staaten Osteuropas und Zentralasiens nur selten oder überhaupt nicht stattgefunden hatten. Dagegen wurden u. a. in Russland große regierungsfreundliche Kundgebungen abgehalten. Sicherheitskräfte gingen regelmäßig mit rechtswidriger Gewalt gegen Protestierende vor. In Kirgisistan galt ein grundsätzliches Demonstrationsverbot in einigen Regionen und in der Hauptstadt Bischkek, mit Ausnahme eines kleinen Parks. Die Behörden in Belarus und Kasachstan verfolgten und inhaftierten nach wie vor Personen, die in den vergangenen Jahren an Protesten teilgenommen hatten.

In Georgien setzte die Polizei im März 2023 Tränengas und Wasserwerfer ein, um einen weitgehend friedlichen Protest aufzulösen. In Turkmenistan wandte die Polizei unnötige und unverhältnismäßige Gewalt gegen Menschen an, die gegen den Mangel an Brot protestierten.

Die Behörden müssen aufhören, Vorwände zu nutzen, um Kritik zu unterdrücken und eine Debatte über ihre Menschenrechtsbilanz zu verhindern. Sie müssen die Drangsalierung und Verfolgung kritischer Stimmen einstellen, rechtswidrige Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte gegen Protestierende stoppen und Gesetze abschaffen oder reformieren, die das Recht auf Versammlungsfreiheit verletzen.

Das Bild zeigt mehrere junge Menschen, die protestieren. Sie tragen rot-weiße Flaggen oder haben diese ungehängt.

Hunderte Menschen aus Belarus protestieren in der polnischen Hauptstadt Warschau gegen die Unterdrückung der Opposition in ihrem Heimatland (9. August 2023).

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Diskriminierung und Repressalien gegen religiöse Minderheiten waren in zahlreichen Ländern gang und gäbe. Die tadschikischen Behörden gingen weiterhin hart gegen Anhänger*innen des ismailitischen Islams vor und bestraften u. a. gemeinsames Beten in Privathäusern. In Russland und den russisch besetzten Gebieten der Ukraine wurden Zeugen Jehovas wegen der Ausübung ihres Glaubens inhaftiert. In Belarus gingen die Sicherheitskräfte gegen katholische Priester vor, in der Ukraine gegen Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK), die faktisch der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstand. Die usbekischen Behörden überzogen strenggläubige Muslim*innen weiterhin mit übermäßig weit gefassten und vage formulierten Anschuldigungen.

Die Regierungen müssen wirksame rechtliche und politische Maßnahmen ergreifen, um das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit umfassend zu schützen, zu fördern und zu gewährleisten und jegliche Diskriminierung auszuschließen.

Folter und andere Misshandlungen

In vielen Ländern waren Folter und andere Misshandlungen nach wie vor an der Tagesordnung, ohne dass die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. In Belarus waren Personen, die aufgrund politisch motivierter Vorwürfe im Gefängnis saßen, unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt. Sie wurden u. a. ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und erhielten keine angemessene Gesundheitsversorgung. In Kasachstan wurden die meisten der nach den Ereignissen vom Januar 2022 eingeleiteten Strafverfahren wegen Folter und Misshandlung aus angeblichem Mangel an Beweisen eingestellt. Von den sechs offiziell anerkannten Todesfällen durch Folter kamen bis Ende 2023 fünf vor Gericht. In Moldau litten Inhaftierte weiter unter Überbelegung der Hafteinrichtungen, unhygienischen Zuständen und schlechter Gesundheitsversorgung. In Georgien verwehrten die Behörden dem ehemaligen Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili eine Freilassung aus humanitären Gründen, obwohl sich sein Gesundheitszustand stark verschlechtert hatte und er Berichten zufolge keine angemessene medizinische Versorgung erhielt.

In Russland fiel Alexej Nawalny 2023 zeitweise dem Verschwindenlassen zum Opfer und wurde mehrfach willkürlich in Strafzellen untergebracht.

Die Regierungen müssen Folter und andere Misshandlungen dringend beenden und diejenigen, die dafür mutmaßlich verantwortlich sind, ausnahmslos in fairen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft ziehen.

Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt

Usbekistan nahm häusliche Gewalt 2023 erstmals als eigenen Straftatbestand ins Gesetzbuch auf. In vielen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern gab es eine Zunahme von geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Begünstigt wurde dies durch den Krieg sowie durch Gesetze, die "traditionelle Werte" und "Familienwerte" beschworen. In der Ukraine wurde inmitten des heftig tobenden Kriegs ein neuer Höchststand der Fälle von häuslicher Gewalt erreicht, und in Kirgisistan wurden Mädchen und Jungen mit Behinderungen häufig Opfer von Misshandlungen und sexualisierter Gewalt. In Georgien waren sexistische und frauenfeindliche Äußerungen über Politikerinnen gegnerischer Parteien an der Tagesordnung. Dabei tat sich insbesondere die Regierungspartei hervor. In Aserbaidschan sahen sich Frauen mit verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert, die auch als Mittel der politischen Rache eingesetzt wurden.

Die Regierungen müssen umfassende Maßnahmen umsetzen, um geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu verhindern. Sie müssen die tief verwurzelte geschlechtsspezifische Diskriminierung und schädliche Stereotype bekämpfen, Schutz und Unterstützung für die Opfer von Gewalt gewährleisten und gegen Straflosigkeit für diese Straftaten vorgehen.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war auch 2023 von Kriegsverbrechen gekennzeichnet. Die russischen Streitkräfte verübten regelmäßig wahllose Angriffe auf bewohnte Gebiete und zivile Infrastruktur, wie z. B. Anlagen, die der Stromversorgung oder dem Getreideexport dienten. Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte setzten Streumunition ein, trotz der unterschiedslosen Wirkung dieser Waffen und ihrer lang anhaltenden Risiken für die Zivilbevölkerung. Schätzungen zufolge war die Ukraine das am stärksten verminte Land der Welt. In Russland und den russisch besetzten Gebieten der Ukraine waren Folter und andere Misshandlungen ukrainischer Kriegsgefangener an der Tagesordnung. Ein Moskauer Gericht bestätigte die 13-jährige Haftstrafe gegen den ukrainischen Menschenrechtsverteidiger Maksym Butkevych wegen angeblicher Kriegsverbrechen, die er nicht begangen haben kann.

Nach der militärischen Einnahme Bergkarabachs durch Aserbaidschan gab es keine Fortschritte bezüglich der Untersuchung völkerrechtlicher Verstöße durch aserbaidschanische und durch armenische Streitkräfte in den vergangenen Jahren, darunter unverhältnismäßige und wahllose Angriffe sowie die mutmaßliche Folterung und Tötung von Kriegsgefangenen.

Alle Vorwürfe über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen unparteiisch und unabhängig untersucht werden, auch mithilfe des Weltrechtsprinzips.

Unfaire Gerichtsverfahren

In vielen Ländern wurde die Justiz dazu missbraucht, Menschenrechte zu unterdrücken, anstatt sie zu schützen. In Russland waren die Gerichte Angeklagten gegenüber stark voreingenommen, und Prozesse, in denen die Anklagen auf "Terrorismus", "Extremismus" oder "Hochverrat" lauteten, fanden in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

In Belarus wurde die Justiz nach wie vor als Instrument genutzt, um jegliche Opposition zum Schweigen zu bringen, darunter Rechtsbeistände und Menschenrechtsverteidiger*innen. Swetlana Tichanowskaja (Sviatlana Tsikhnouskaya), Pawel Latuschka (Pavel Latushka), Maria Moros (Maroz), Olga Kowalkowa (Volha Kavalkova) und Sergej Dylewski (Sharhei Dyleuski) wurden aufgrund konstruierter Anklagen in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt; die Menschenrechtsverteidigerin Nasta Loika kam für sieben Jahre ins Gefängnis. In Kasachstan wurde der gefeierte Sportler Marat Zhylanbayev wegen friedlicher Opposition zu sieben Jahren Haft verurteilt. Das US-Außenministerium verhängte gegen vier hochrangige Richter in Georgien Sanktionen wegen Korruption, Amtsmissbrauch und Untergrabung des Justizsystems.

Die Vereinten Nationen äußerten sich tief besorgt über die übermäßig breite Definition von "Terrororganisation" in Tadschikistan, die Notstandsmaßnahmen und Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit ermöglichte. Nachdem Deutschland den Asylsuchenden Abdullohi Shamsiddin nach Tadschikistan abgeschoben hatte, fiel dieser dem Verschwindenlassen zum Opfer, ehe man ihn zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilte. In Usbekistan wurden zahlreiche Menschen, die mit den Massenprotesten in Karakalpakistan im Jahr 2022 in Verbindung standen, auf Grundlage politisch motivierter Anklagen in unfairen Gerichtsverfahren für schuldig befunden.

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Rechte von Kindern und älteren Menschen

Der russische Angriffskrieg stürzte die gesamte Bevölkerung der Ukraine in Leid und Elend. Besonders gravierend waren die Auswirkungen für Kinder und ältere Menschen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden in der Ukraine zwischen Februar 2022 und November 2023 insgesamt 569 Kinder getötet und mindestens 1.229 verletzt. Schätzungen zufolge hatten die russischen Besatzungsbehörden Hunderte, wenn nicht Tausende ukrainische Kinder in russisch besetzte Gebiete oder nach Russland verschleppt. Im März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa wegen Beteiligung an diesem Kriegsverbrechen.

Ältere Menschen waren besonders stark vom Krieg betroffen. Ihr Anteil an den Zivilpersonen, die verletzt oder getötet wurden, war unverhältnismäßig hoch. Vertriebene ältere Menschen fanden auf dem privaten Wohnungsmarkt nur schwer eine neue Bleibe, und die Notunterkünfte waren für ältere Menschen, insbesondere für Personen mit Behinderungen, meist ungeeignet, weil sie nicht barrierefrei waren.

Wirtschaftliche und soziale Rechte

Militärische Konflikte beeinträchtigten weiterhin die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Vor der Militäroffensive im September 2023 führte die aserbaidschanische Blockade der einzigen Verbindungsstraße Bergkarabachs mit Armenien (Latschin-Korridor) neun Monate lang zu kritischen Engpässen bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff und zu einer humanitären Krise in der abtrünnigen Region.

In ganz Russland sowie in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine wurden im September 2023 neue, "einheitliche" Geschichtsbücher für den Sekundarunterricht eingeführt, die die Schüler*innen ganz offensichtlich rechtswidrig indoktrinieren sollten, indem sie versuchten, die historische Menschenrechtssituation in Russland und in der Sowjetunion zu beschönigen. Kinder in den russisch besetzten Gebieten waren gezwungen, sich den ukrainischen Lehrplan "im Verborgenen" anzueignen, um Repressalien zu vermeiden.

Die Regierungen müssen die Rechte auf einen angemessenen Lebensstandard und auf Zugang zu hochwertiger Bildung für alle Menschen gewährleisten.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Menschen auf der Flucht machten in Zentralasien und Osteuropa nach wie vor leidvolle Erfahrungen. In Belarus zwangen die Behörden Migrant*innen, die Grenzen zu EU-Ländern zu überqueren, deren Grenzschutz sie jedoch häufig wieder zurückschob. Die russischen Behörden setzten Täuschung und Druckmittel ein, um Migrant*innen für den Militärdienst zu rekrutieren. Die mehr als 100.000 ethnischen Armenier*innen, die nach der Militäroffensive Aserbaidschans aus Bergkarabach nach Armenien flohen, gerieten in wirtschaftliche Not und wussten nicht, ob eine Rückkehr möglich sein würde.

Die Regierungen müssen gewährleisten, dass alle Menschen, die vor Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen fliehen, Sicherheit und internationalen Schutz finden und nicht in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die Länder der Region, die zu den führenden Produzenten fossiler Brennstoffe und zu den größten Treibhausgasemittenten zählen, verursachten eine enorme Umweltzerstörung und -verschmutzung. Gleiches galt für die im Stil des Zweiten Weltkriegs geführten militärischen Gefechte in der Ukraine.

Der russische Angriffskrieg verseuchte die Luft, das Wasser und den Boden der Ukraine in starkem Maße und produzierte gigantische Mengen an Sondermüll. Eine offenbar gezielte militärische Aktion, für die nach allgemeiner Auffassung russische Streitkräfte verantwortlich waren, zerstörte den Kachowka-Staudamm und führte zu Verunreinigungen des Wassers durch Chemikalien und Abfälle, deren langfristige ökologische Folgen weit über die ukrainischen Grenzen hinausreichen.

Gesundheitsgefährdend war auch die Luftverschmutzung, die hauptsächlich auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zurückzuführen war. In Kasachstan verursachte sie Schätzungen zufolge jährlich mehr als 10.000 vorzeitige Todesfälle, in Belarus war sie für 18 Prozent der Todesfälle durch Schlaganfälle oder ischämische Herzkrankheiten verantwortlich. Die kirgisische Hauptstadt Bischkek zählte zu den Städten mit der höchsten Luftverschmutzung weltweit.

In zahlreichen Ländern waren Umweltschützer*innen schweren Repressalien ausgesetzt. In Armenien waren Aktivist*innen, die sich gegen eine Goldmine zur Wehr setzten und vor deren möglichen Umweltfolgen warnten, mit enorm hohen Schadenersatzforderungen des betreffenden Unternehmens konfrontiert. Die russischen Behörden stuften zwei große Umweltorganisationen als "unerwünscht" ein und verboten deren Tätigkeit im Land.

Die Regierungen müssen unverzüglich handeln, um Einzelpersonen und Gemeinschaften vor den Gefahren und Auswirkungen des Klimawandels sowie extremer Wetterereignisse zu schützen. Um ausreichende Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zur Eindämmung seiner Folgen zu ergreifen, müssen sie sich auch um internationale Unterstützung und Zusammenarbeit bemühen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

In der Ukraine wurde im März 2023 ein Gesetzentwurf veröffentlicht, der eine eingetragene Lebenspartnerschaft auch für gleichgeschlechtliche Paare vorsah, das für sie geltende Adoptionsverbot aber beibehielt.

In Russland trat hingegen ein transfeindliches Gesetz in Kraft, und der Oberste Gerichtshof erklärte die "internationale öffentliche LGBT-Bewegung" zu einer "extremistischen Organisation", was faktisch bedeutete, dass die russischen LGBTI-Organisationen und LGBTI-Aktivist*innen ihre Arbeit einstellen mussten. Rückschritte gab es auch in zentralasiatischen Ländern. In Kirgisistan lag ein Gesetzentwurf vor, um Informationen zu verbieten, die "Familienwerte" leugnen und "nichttraditionelle sexuelle Beziehungen" fördern. In Turkmenistan und Usbekistan waren einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen weiterhin strafbar.

Die Regierungen sollten Gesetze, Maßnahmen und Vorgehensweisen abschaffen, die LGBTI+ diskriminieren, indem sie u. a. einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen entkriminalisieren und rechtliche Hürden für gleichgeschlechtliche Ehen beseitigen.

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Westeuropa, Mitteleuropa und Südosteuropa

In vielen europäischen Ländern schürten Politiker*innen die soziale Polarisierung in Bezug auf die Rechte von Frauen und LGBTI+, die Migration und Klimagerechtigkeit oder bezüglich der entsetzlichen Ereignisse in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Viele Regierungen instrumentalisierten die Menschenrechte, um verschiedene Gruppen zu stigmatisieren, und ergriffen unverhältnismäßige Maßnahmen, um zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume einzuschränken. Dieses Vorgehen richtete sich gezielt gegen Klimaaktivist*innen und gegen Menschen, die abweichende Meinungen vertraten, was die Solidarität mit Palästinenser*innen, Muslim*innen und anderen rassifizierten Personengruppen betraf.

Systemischer Rassismus hatte weiterhin Menschenrechtsverletzungen und Todesopfer zur Folge. Die Staaten setzten ihre rassistische Ausgrenzungspolitik gegenüber Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien fort, die zu Toten und Verletzten an See- und Landgrenzen führte. Die Regierungen unternahmen nicht genug, um die anhaltende Diskriminierung und Ausgrenzung von Rom*nja zu beenden. Es gab immer mehr Berichte über Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus, während es zugleich an antirassistischen Maßnahmen seitens der Staaten mangelte und Rassismus politisch instrumentalisiert wurde.

Bezüglich geschlechtsspezifischer Gewalt sowie sexuellen und reproduktiven Rechten gab es sowohl Fortschritte als auch Rückschritte. Der Trend, Gesellschaften immer stärker zu überwachen, setzte sich fort. Menschen mit Behinderungen und andere verletzliche Bevölkerungsgruppen wurden nicht ausreichend geschützt.

In vielen Staaten trat offen zutage, dass bei bestimmten politischen Themen mit zweierlei Maß gemessen wurde: Bezüglich Israel zeigte sich dies daran, dass Solidaritätskundgebungen für die Menschenrechte der Palästinenser*innen eingeschränkt wurden. Die warmen Worte auf der Weltklimakonferenz (COP28) standen in krassem Gegensatz zur fortgesetzten Produktion und Nutzung fossiler Brennstoffe und dem harten Vorgehen gegen Klimaaktivist*innen. Und während Rückschritte bezüglich der Menschenrechte in Europa achselzuckend hingenommen wurden, wurden sie in anderen Weltregionen kritisiert.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die EU-Mitgliedstaaten hielten an ihrer rassistischen und ausgrenzenden Flüchtlingspolitik fest, die zu Todesopfern führte, und erzielten kaum Fortschritte, was die geteilte Verantwortung in der EU betraf. Bei den Verhandlungen über eine EU-Asylreform zeichnete sich ein Kompromiss ab, der Schutzgarantien abbauen und das Leid Schutzsuchender vergrößern würde. Weil die Staaten keine sicheren und legalen Fluchtwege schufen, waren Menschen an den Land- und Seegrenzen weiterhin Misshandlungen und unnötigen Gefahren ausgesetzt. Bei einem Schiffsunglück vor der griechischen Hafenstadt Pylos kamen im Juni 2023 mehr als 600 Personen ums Leben, darunter viele Kinder. Hunderte weitere Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien waren das gesamte Jahr über Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt, weil rechtswidrige Kollektivabschiebungen an den europäischen Grenzen weiterhin an der Tagesordnung waren.

Die Europäische Kommission leitete keine Vertragsverletzungsverfahren gegen Lettland und Litauen ein, obwohl beide Länder Gesetzesreformen vornahmen, die Kollektivabschiebungen ermöglichten. Die Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen hielt weiter an: Spanien unternahm keine gründliche Untersuchung der Todesfälle, Folterungen und rechtswidrigen Abschiebungen an der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla im Jahr 2022.

Einige europäische Länder missachteten die Rechte schutzsuchender afghanischer Staatsangehöriger. In Deutschland profitierten weniger als 100 Menschen von einem humanitären Aufnahmeprogramm, das ursprünglich die Aufnahme von 1.000 afghanischen Staatsangehörigen pro Monat ermöglichen sollte. Dänemark, Finnland und Schweden unternahmen positive Schritte, um sämtlichen asylsuchenden Frauen und Mädchen aus Afghanistan Schutz zu gewähren.

Angriffe gegen Flüchtlinge und Migrant*innen wurden in Deutschland, Griechenland, Tschechien und Zypern verzeichnet. Viele Politiker*innen äußerten sich diskriminierend und rassistisch über Flüchtlinge und Migrant*innen, so z. B. in der Türkei vor der Präsidentschaftswahl im Mai 2023.

Europäische Staaten versuchten weiterhin, Grenzkontrollen auszulagern, und ignorierten dabei menschenrechtliche Verpflichtungen. Weitere Länder strebten Abkommen zur Auslagerung von Asylverfahren an. Italien bemühte sich um ein entsprechendes Abkommen mit Albanien, während die EU ein Migrationsabkommen mit Tunesien anstrebte, das eine Verletzung von Rechten befürchten ließ. Die Zusammenarbeit mit der Türkei wurde fortgesetzt, obwohl das Land den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) missachtete und Tausende Menschen in Länder abschob, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohten. Die britische Regierung verfolgte weiter hartnäckig ihren Plan, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben und dort über deren Anträge zu entscheiden, obwohl der Oberste Gerichtshof im November 2023 entschieden hatte, dass das Vorhaben rechtswidrig sei.

Die Regierungen müssen ihre rassistische Ausgrenzungspolitik beenden. Sie müssen vielmehr gewährleisten, dass politische Maßnahmen das Recht auf Leben von Flüchtlingen und Migrant*innen schützen, achten und gewährleisten. Außerdem müssen sie sichere und legale Fluchtwege schaffen und an den Grenzen das Recht der Menschen wahren, Asyl zu suchen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Lettland ratifizierte das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), und Nordmazedonien brachte seine Gesetze mit dem Abkommen in Einklang. Kroatien kündigte an, Femizid als eigenen Straftatbestand in das Gesetzbuch aufzunehmen. Die Schweiz machte das Zustimmungsprinzip zur Grundlage der Definition von Vergewaltigung. Auch in den Niederlanden war eine entsprechende Gesetzesänderung geplant.

Doch gab es in vielen Ländern weiterhin ein hohes Maß an geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen, zugleich waren die staatlichen Maßnahmen unzureichend. Aus Albanien, Griechenland, Italien, Serbien, Spanien, Österreich und der Türkei wurden Dutzende bzw. Hunderte Femizide gemeldet. In Bosnien und Herzegowina löste die Ermordung einer Frau, die live in den Sozialen Medien übertragen wurde, Proteste aus, ebenso wie in Bulgarien das lasche Vorgehen gegen einen Täter.

Während in Finnland ein Gesetz in Kraft trat, das einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen erlaubt, und Spanien ein Gesetz verabschiedete, das 16- und 17-Jährigen einen Abbruch ohne elterliche Erlaubnis gestattet, behielten einige Länder ihre restriktiven Regelungen bei. In Polen starb mindestens eine Frau, der man einen Schwangerschaftsabbruch verweigert hatte, an den Folgen. In Irland, Italien, Kroatien und Nordirland lehnte medizinisches Personal den Eingriff häufig aus Gewissensgründen ab. In Österreich war der Zugang zu erschwinglichen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen beschränkt, weil sie nicht vom staatlichen Gesundheitssystem abgedeckt waren. In Tschechien verweigerten medizinische Einrichtungen aufgrund von Falschinformationen nichttschechischen EU-Bürgerinnen die Versorgung. Malta ersetzte das absolute Abtreibungsverbot durch eine sehr restriktive Regelung. Andorra war das einzige Land der Region, in dem noch ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen galt.

Die Regierungen müssen dringend alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt bekämpfen und gegen die Ursachen vorgehen, die ihr zugrunde liegen.

Das Bild zeigt viele Menschen mit Protestplakaten

Amnesty-Demonstration für Frauenrechte in Amsterdam am 5. März 2023

Recht auf Privatsphäre

Mehrere Städte und Kantone in der Schweiz verboten Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. In Frankreich wurde jedoch mit Blick auf die Olympischen Spiele im Jahr 2024 ein neues Gesetz verabschiedet, das den Einsatz KI-gestützter Technologie zur massenhaften Videoüberwachung erlaubt. Amnesty International fand heraus, dass die Firmengruppe Intellexa Alliance ihre Spionagesoftware Predator in viele Länder verkauft hatte, u. a. nach Österreich, in die Schweiz und nach Deutschland, und enthüllte den Einsatz von Predator gegen eine in Berlin ansässige vietnamesische Nachrichten-Website sowie gegen europäische Institutionen und Forscher*innen. In Spanien bestätigte sich, dass mindestens 65 Personen mit der Spionagesoftware Pegasus ausgespäht worden waren, vor allem in Katalonien.

Unabhängigkeit der Justiz und Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

In Polen, der Türkei und Ungarn wurde die richterliche Unabhängigkeit noch weiter ausgehöhlt. Ungarn unternahm Schritte, um die Befugnisse der Justiz einzuschränken. In Polen ging die Regierung nach wie vor gegen kritische Richter*innen vor. In der Türkei weigerte sich das Kassationsgericht, Entscheidungen des Verfassungsgerichts umzusetzen, und warf stattdessen den Richter*innen des Verfassungsgerichts vor, sie hätten "rechtswidrig gehandelt".

Die Regierungen müssen die Entwicklung hin zu massenhafter Überwachung stoppen, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren respektieren und die Aushöhlung der richterlichen Unabhängigkeit beenden.

Recht auf freie Meinungsäußerung

In vielen west-, mittel- und südosteuropäischen Ländern waren Medienschaffende Angriffen ausgesetzt. In der Türkei wurden erneut zahlreiche Journalist*innen wegen gegenstandsloser Vorwürfe wie "Terrorismus" inhaftiert und strafrechtlich verfolgt.

In Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Nordmazedonien, Österreich und Serbien griffen Politiker*innen und Unternehmen auf strategische Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klagen) zurück, um Journalist*innen und Aktivist*innen mundtot zu machen. Während die serbische Teilrepublik (Republika Srpska) in Bosnien und Herzegowina Verleumdung strafbar machte, senkte Bulgarien die Geldbußen für Verleumdung gegen Staatsbedienstete, und Kroatien verabschiedete eine Gesetzesänderung, die Journalist*innen etwas besser gegen SLAPP-Klagen schützt.

In nahezu allen Ländern der Region wurden Maßnahmen vorgeschlagen oder umgesetzt, die Kritik an der israelischen Bombardierung des Gazastreifens und Äußerungen zur Unterstützung der Menschenrechte der Palästinenser*innen unverhältnismäßig stark einschränkten, auch im Internet.

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Recht auf friedliche Versammlung

Die Verschärfung des Klimanotstands führte zu immer mehr friedlichen Protesten, auf die die Behörden hart reagierten. Klimaaktivist*innen, die an friedlichen Aktionen des zivilen Ungehorsams teilnahmen, wurden massenhaft festgenommen, schwerer Straftaten beschuldigt und mit Verleumdungskampagnen überzogen.

Viele Länder schränkten das Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig stark ein. In den Niederlanden griff die Polizei u. a. auf rechtswidrige Personenkontrollen zurück, um Protestierende zu überwachen. In Frankreich, Italien, Serbien, der Türkei und anderen Staaten ging die Polizei häufig mit rechtswidriger Gewalt und diskriminierenden Maßnahmen gegen Proteste vor.

Viele Regierungen verhängten rechtswidrige Einschränkungen für Solidaritätsbekundungen mit Palästinenser*innen. Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, die Schweiz, Ungarn und andere Staaten verboten sie bereits im Vorfeld und begründeten dies mit vage definierten Gefahren für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit. Medien und Politiker*innen benutzten häufig eine Sprache, die Palästinenser*innen entmenschlichte, rassistische Stereotype bediente und Muslim*innen mit Terrorist*innen gleichsetzte.

Die französischen Behörden führten die Antiterrorgesetzgebung ins Feld, um friedliche Proteste zu verbieten und willkürliche Festnahmen vorzunehmen. Die türkischen Behörden versuchten, Pride-Paraden mit pauschalen Verboten zu verhindern, gingen mit unnötiger Gewalt gegen sie vor und nahmen mindestens 224 Personen willkürlich fest. Ein neues britisches Gesetz erweiterte die Polizeibefugnisse und machte es möglich, Personen die Teilnahme an Demonstrationen zu verbieten und einstweilige Verfügungen gegen friedlich Protestierende zu verhängen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Frankreich bemühte sich weiterhin um die Auflösung mehrerer NGOs ohne ordnungsgemäßes Verfahren. Die türkischen Behörden verstärkten die unverhältnismäßigen Finanzprüfungen von NGOs, um diese zu schikanieren. In Bosnien und Herzegowina verabschiedete die Republika Srpska ein Gesetz, das für Organisationen, die Gelder aus dem Ausland erhielten, ein Sonderregister einführte. Ungarn begrenzte mit einem neuen Gesetz die ausländische Finanzierung von NGOs.

Der Raum, in dem alle Menschen ihre Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ausüben können, muss vor staatlichen Übergriffen geschützt sein.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für die Rechte von Frauen oder Migrant*innen einsetzten, waren häufig Repressalien ausgesetzt. In Andorra drohte einer Aktivistin, die das absolute Abtreibungsverbot in ihrem Land kritisiert hatte, eine hohe Geldstrafe. In Polen wurde Justyna Wydrzynska zu acht Monaten Sozialdienst verurteilt, weil sie eine Frau unterstützt hatte, die einen sicheren Schwangerschaftsabbruch benötigte. In Griechenland wurden Sarah Mardini und Séan Binder, die sich für die Rechte von Migrant*innen einsetzten, wegen vier schweren Straftaten angeklagt. Die lettischen Behörden eröffneten Strafverfahren gegen zwei Menschenrechtsverteidiger*innen wegen ihrer humanitären Arbeit an der Grenze zu Belarus. In der Türkei bestätigte ein Gericht die lebenslange Haftstrafe gegen Osman Kavala und setzte sich damit über Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hinweg.

Die Regierungen sollten Menschenrechtsverteidiger*innen schützen und ihre wichtige Rolle anerkennen, statt ihre Aktivitäten zu stigmatisieren und zu kriminalisieren.

Rassistische Diskriminierung

In vielen Ländern waren weiterhin rassistisch diskriminierende Personenkontrollen durch die Polizei üblich. In Frankreich räumte das höchste Verwaltungsgericht ein, dass die Polizei Racial Profiling vornahm, schlug aber keine Gegenmaßnahmen vor. Ein niederländisches Gericht verbot der Grenzpolizei rassistische Personenkontrollen. In Großbritannien stellte ein Bericht fest, dass in der für den Großraum London zuständigen Polizei institutionelle Diskriminierung herrsche.

Deutschland meldete eine Rekordzahl von Hassverbrechen. Der EGMR strafte Bosnien und Herzegowina abermals wegen diskriminierender Wahlvorschriften ab. In Lettland und Litauen verloren einige russische Staatsangehörige ihre Aufenthaltserlaubnis.

Rom*nja waren von Diskriminierung, Segregation und Ausgrenzung betroffen. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarats stellte fest, dass Italien das Recht von Rom*nja auf Wohnraum verletzt habe, und Gerichte in der Slowakei entschieden, dass separate Klassen für Roma-Schüler*innen diskriminierend seien. Die bulgarische Kommission für den Schutz vor Diskriminierung untersuchte Fälle, in denen Rom*nja der Besuch öffentlicher Schwimmbäder verweigert worden war. In Nordmazedonien starb ein Rom, nachdem man ihm eine medizinische Behandlung verwehrt hatte, weil er keinen Personalausweis besaß. In Rumänien verweigerte ein Krankenhaus einer schwangeren gehörlosen Romni die medizinische Versorgung, was dazu führte, dass sie ihr Kind draußen auf dem Gehweg zur Welt bringen musste.

In Frankreich wurden muslimische Frauen vor allem im Sport und in Bildungseinrichtungen diskriminiert. Während der entsetzlichen Ereignisse in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten nahmen antisemitische und antimuslimische diskriminierende Äußerungen und Hassverbrechen in vielen Ländern zu.

Nach den Erdbeben in der Türkei im Februar 2023 attackierten sowohl Privatpersonen als auch staatliche Akteur*innen Flüchtlinge und Migrant*innen, die bei Such- und Rettungseinsätzen halfen, mit rassistischen Beschimpfungen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Während Lettland 2023 eingetragene Lebenspartnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare einführte, stand dies in Litauen noch aus. Der EGMR verurteilte Bulgarien und Rumänien, weil sie gleichgeschlechtlichen Paaren die rechtliche Anerkennung verweigerten.

LGBTI+ wurden weiterhin diskriminiert. In Kroatien und Nordmazedonien gab es anlässlich von Pride-Paraden Drohungen und diskriminierende Äußerungen sowohl von staatlicher Seite als auch von Privatpersonen. Die norwegische Polizei stellte fest, dass an LGBTI-Treffpunkten ein ständiges Risiko gewaltsamer Angriffe bestand. In der Türkei nahmen diskriminierende Äußerungen von Politiker*innen über LGBTI+ vor der Präsidentschaftswahl stark zu.

Gegen Ungarn lief wegen des "Propagandagesetzes", das die "Förderung und Darstellung von Homosexualität und Geschlechtsangleichung" verbot, ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Dennoch verhängten die Behörden Geldstrafen gegen Buchhandlungen wegen Verstößen gegen dieses Gesetz, und die Medienbehörde verbot einen TV-Werbespot für eine Pride-Veranstaltung. Der EGMR verurteilte Litauen wegen der Zensur eines Märchenbuchs, in dem u. a. gleichgeschlechtliche Beziehungen dargestellt waren.

Hinsichtlich der Rechte von trans Personen gab es sowohl Fortschritte als auch Rückschläge. Deutschland schaffte eine diskriminierende Regelung ab, die trans Personen sowie schwule und bisexuelle Männer vom Blutspenden ausschloss. Außerdem wurde im Bundestag über ein neues Selbstbestimmungsgesetz diskutiert, das transgeschlechtlichen, nicht-binären und intergeschlechtlichen Menschen auf der Grundlage einer einfachen Erklärung beim Standesamt das Selbstbestimmungsrecht zubilligen würde. In Finnland trat ein Gesetz in Kraft, das die Änderung des Geschlechtseintrags in offiziellen Dokumenten für trans Erwachsene ermöglichte, wenn sie dies beantragten. In Spanien gewährleistete ein neues Gesetz Gesundheitsversorgung und Selbstbestimmung für trans Personen. Dagegen beendete Bulgarien die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag ändern zu lassen, und die britische Regierung verhinderte das Inkrafttreten des vom schottischen Parlament verabschiedeten Gesetzes zur Geschlechtsanerkennung.

Die Regierungen müssen die systemische Diskriminierung u. a. von jüdischen, muslimischen und Schwarzen Menschen, Rom*nja und LGBTI+ wirkungsvoll bekämpfen.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die finnische Regierung plante Kürzungen bei der staatlichen Gesundheitsversorgung und höhere Gebühren und Steuern für Medikamente, was die schwächsten Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark treffen würde. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarats erklärte eine Klage gegen Griechenland wegen Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen für zulässig. Slowenien verabschiedete ein Gesetz über Langzeitpflege, doch mangelte es im ganzen Land an Ärzt*innen.

Dänemark und Finnland kündigten Kürzungen bei den Sozialausgaben an. Frankreich, Irland und Portugal meldeten Rekordzahlen an Wohnungslosen. Spanien verabschiedete ein Gesetz über das Recht auf Wohnen, schützte einkommensschwache Menschen jedoch nicht ausreichend gegen Zwangsräumungen. In Serbien verloren möglicherweise Tausende Menschen ihren Anspruch auf Unterstützungsleistungen infolge eines neuen Sozialhilfesystems, das einen Algorithmus nutzte. Besonders stark betroffen waren Rom*nja und Menschen mit Behinderungen.

In der Türkei schützten die Behörden nach den Erdbeben im Februar 2023 Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend.

Die Regierungen müssen unverzüglich handeln, um die wirtschaftlichen und sozialen Rechte aller Menschen diskriminierungsfrei zu gewährleisten, u. a. indem sie ausreichende Mittel und eine universelle und umfassende soziale Absicherung bereitstellen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Zu den positiven Entwicklungen zählte, dass ein Gericht in Zypern das Recht von NGOs anerkannte, in Umweltangelegenheiten im öffentlichen Interesse zu klagen. In Irland reichten NGOs Klage gegen die unzureichende Reduktion von Treibhausgasen ein, und sechs junge Menschen aus Portugal klagten vor dem EGMR gegen 33 Länder wegen deren Untätigkeit im Kampf gegen den Klimawandel. Der Europarat erkannte das Recht auf eine gesunde Umwelt zwar politisch an, verabschiedete dazu aber kein verbindliches Rechtsinstrument.

Viele Länder nutzten dennoch weiter fossile Brennstoffe. Bulgarien und Rumänien trieben die Gasförderung im Schwarzen Meer voran, Griechenland und die Slowakei planten LNG-Terminals, Malta unterstützte eine große Gaspipeline, Norwegen gewährte Steueranreize für Öl- und Gasfelder, und Deutschland subventionierte Projekte, die fossile Brennstoffe nutzten. Französische Banken zählten zu den weltweit wichtigsten Finanzgebern, was die Förderung fossiler Brennstoffe betraf.

Die Regierungen sollten die Produktion und Nutzung fossiler Brennstoffe auslaufen lassen und für einen gerechten Übergang sorgen. Sie sollten dringend die Klimafinanzierung für ärmere Länder ausweiten und zusätzliche Mittel für Verluste und Schäden bereitstellen.

Eine Collage aus zwei Fotos: Auf dem linken Foto sind vier junge Menschen im alter von elf bis 24. Auf dem rechten Foto sind zwei junge Menschen, Bruder und Schwester, 15 und 18 Jahre.

Diese sechs jungen Menschen aus Portugal klagen für mehr Klimaschutz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Martim, Catarina, Cláudia, Mariana, Sofia und André (v.l.n.r).

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