Amnesty Journal Bangladesch 29. April 2024

"Wir müssen ständig abwägen, wie weit wir gehen"

Das Bild zeigt bunte Stoffbahnen in Vogelperspektive

Nicht schön: Arbeitsbedingungen in der bangladeschischen Textilindustrie. Das Foto zeigt Stoffbahnen in Batik Village in der Region Dhaka (2024).

Die Regierung Bangladeschs schlug im Herbst 2023 landesweite Streiks und Demonstrationen für eine Erhöhung des Mindestlohns in der ­Textilbranche gewaltsam nieder. Vier Beschäftigte wurden getötet, Zehntausende angeklagt, mehr als 100 Gewerkschafter*innen inhaftiert. Nazma Akter ist Präsidentin der Textilgewerkschaft Sommilito Garment Sramik Federation und streitet dennoch weiter für bessere Arbeitsbedingungen.  

Interview: Annette Jensen

Was haben die Proteste im Herbst in der Textilbranche gebracht?

Wir haben nichts erreicht. Die Streiks und Demonstrationen wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen. Drei Arbeiter und eine Arbeiterin sind getötet worden, viele wurden verletzt, und viele Beschäftigte haben ihre Arbeit verloren.

Wer stellt die größere Gefahr dar – der Staat oder die Arbeitgeberseite?

Die Arbeitgeber gehen oft gegen Leute vor, die sich für Arbeitsrechte einsetzen. Sie suchen dann beim Staat Unterstützung – und bekommen sie auch. Korruption spielt dabei eine große Rolle. Oft bilden die Unternehmensleitungen auch selbst Beschäftigtenvertretungen, die dann nicht unabhängig agieren. Viele Fabrikbesitzer sitzen im Parlament.

Wie gewinnen Sie unter diesen Umständen Mitglieder?

Wir besuchen sie zu Hause oder in ihrer Community. In den Betrieben ist das sehr mühsam und oft mit der Gefahr verbunden, dass jene entlassen werden, die versuchen, neue Mitglieder zu werben.

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau

Kämpft für bessere Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie in Bangladesch: Nazma Akter, Präsidentin der Gewerkschaft Sommilito Garment Sramik Federation (undatiertes Foto).

Wie stark sind die Gewerkschaften in Bangladesch?

Der Organisationsgrad in der Arbeiterschaft ist nicht höher als fünf Prozent. Wir haben deshalb nur so wenige Mitglieder, weil die Freiheit, sich für die eigenen Interessen zusammenzuschließen und zu engagieren, stark eingeschränkt ist. Viele Beschäftigte haben Angst, ihren Job zu verlieren.

Viele Oppositionelle sitzen in Bangladesch im Gefängnis. Sind auch Gewerkschafter*innen inhaftiert?

Ich möchte nicht über die politische Lage sprechen. Im Zusammenhang mit den Streiks gab es Anklagen gegen mehr als 43.000 Personen, die aber größtenteils nicht namentlich bekannt sind. 132 Gewerkschafter*innen wurden festgenommen. Elf sind immer noch im Gefängnis.

Weswegen?

Die Vorwürfe umfassen Terrorismus, Vandalismus und andere kriminelle Handlungen.

Sie sind eine der führenden Gewerkschafterinnen in Bangladesch – wie ist Ihre persönliche Situation?

Auch ich stehe sehr stark unter Druck, weil wir die Lage nicht akzeptieren, schriftliche Petitionen einbringen und weiter protestieren. Ich erhalte auch Drohanrufe und all das. Für uns Gewerkschafter*innen ist es sehr schwierig, weil wir ständig abwägen müssen, wie weit wir gehen. Schließlich haben die Arbeiter*innen sehr wenig Geld. Wenn die Vermieter drohen, sie vor die Tür zu setzen, oder die Fabrikbesitzer mit Kündigung drohen, ist das sofort existenzbedrohend. Die Leute sind sehr arm und trauen sich deshalb oft nicht, sich zu wehren.

In Deutschland gibt es seit 2023 ein Lieferkettengesetz, die Europäische Union hat ebenfalls ein solches Gesetz beschlossen. Können internationale Auftraggeber die Lage in den Fabriken beeinflussen?

Der Textilsektor ist die bedeutendste Exportbranche Bangladeschs. Der Mindestlohn, für den unsere Kolleg*innen in dieser Branche arbeiten, reicht jedoch nicht, um ihre Grundbedürfnisse und die ihrer Familien abzudecken. Die internationalen Abnehmer unserer Textilien hätten die von uns geforderte Erhöhung des Mindestlohns akzeptiert – allerdings auch nicht mehr. Die meisten Auftraggeber kommen ja gerade deshalb in unser Land, weil die Arbeit hier so extrem billig zu haben ist.

HINTERGRUND

Auf Kante genäht

Am 7. November 2023 gab die bangladeschische Regierung nach langem Zögern ihre Entscheidung bekannt: Auf 12.500 Taka, umgerechnet 105 Euro, werde der Mindestlohn in der Textilwirtschaft angehoben. Das ist etwas mehr als der Arbeitgeberverband BGMEA von sich aus angeboten hatte. Der neue Mindestlohn liegt aber deutlich unter der Forderung der Textilgewerkschaften, die wegen stark ­gestiegener Energie-, Transport- und Lebensmittelpreise knapp die doppelte Summe angemahnt hatten.

Ende Oktober 2023 waren die ersten Beschäftigten für höhere Löhne auf die Straße gegangen – nach unterschiedlichen Berichten zwischen 18.000 und 23.000 Menschen. Die Fabrikbesitzer*innen reagierten, wie dies in Bangladesch meist der Fall ist, mit Drohungen und Gewalt. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor. Nach Recherchen von Amnesty International starben bei den Protesten mindestens vier Menschen, darunter drei durch Polizeikugeln.

Bangladesch ist der zweitgrößte Textilhersteller weltweit. Seit der Katastrophe in der Fabrik Rana Plaza, bei deren Einsturz am 23. April 2013 mehr als 1.100 Menschen starben und weitere 2.500 verletzt wurden, hat sich unter öffentlichem Druck die Sicherheit in den meisten Fabriken verbessert. Das gilt jedoch nicht für Arbeitnehmer*innenrechte. Amnesty International kritisierte Ende 2023 Armutslöhne, die Unterdrückung von Protesten sowie unzureichende Entschädigungen bei Arbeitsunfällen und Todes­fällen.

Die Arbeitgeberlobby ist in Bangladesch stark. Bei der umstrittenen Parlamentswahl am 7. Januar 2024 konnten sich 18 Textilunternehmer*innen Sitze ­sichern. Die Regierungspartei Awami ­League verfügt mit 224 von 300 Mandaten über eine mehr als komfortable Mehrheit im Parlament.

Wegen der Repressionen seitens des Staats und der Arbeitgeberseite gibt es kaum Betriebsräte. "Brauchen wir nicht", lautet die Antwort eines Textilproduzenten, zu dessen Kundenkreis auch deutsche Handelskonzerne gehören. "Wer in der Firma ein Problem hat, wendet sich direkt an uns." Genau das tat Shahidul Islam, ein Angestellter bei Prince Jacquard Sweater: Er wandte sich im Juni 2023 wegen nicht gezahlter Löhne an sein Management. Unmittelbar nach dem Treffen wurde er getötet – mutmaßlich von einem Auftragsmörder. Die Firma produziert unter anderem für New Yorker.

Gefährdet sind auch Gewerkschaf­ter*in­nen. Nach Angaben der Clean Clothes Campaign wurden am 15. Februar 2024 die beiden Arbeitnehmervertreter Shariful Islam und Jagdish Babu vor dem Fabrikeingang der Libas Textiles Factory geschlagen. Zu deren Abneh­mer*in­nen zählen laut Website H&M, C&A, Mango und NKD.

Bernhard Hertlein ist Mitglied der Amnesty-Ländergruppe Bangladesch.

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