Amnesty Journal Guatemala 10. April 2023

Frei und doch nicht frei

Ein indigener Mann in einem weiten kurzärmeligen Hemd trägt eine lange Hose, die über seine Turnschuhe fällt, seine Arme hängen herunter, während er neben einem Fluss am felsigen Ufer steht, daneben erstreckt sich Wald.

Wasserreichste Region Guatemalas: Bernardo Caal Xol am Rio Cahabón

Bernardo Caal Xol ist Umweltaktivist und legte sich in Guatemala mit der Politik an. 1.520 Tage saß der indigene Dorflehrer zu Unrecht in einer Zelle. Ein Einzelfall? Nein, eher ein typisches Beispiel für die fehlende Unabhängigkeit der Justiz.

Aus Cobán von Knut Henkel

Zum Jahresauftakt erhielt Bernardo Caal Xol mal wieder eine Vorladung. Im Januar müsse er erneut vor Gericht in Cobán erscheinen. Der Termin wurde zwar verschoben, aber der Druck bleibt. "Die Justiz kriminalisiert mich weiter. Das ist der Preis für unseren Widerstand gegen die Kommerzialisierung der Natur", sagt der Umweltaktivist und rollt ­genervt mit den Augen. Der stämmige Mann trägt ein gewebtes Hemd in den traditionellen Farben der indigenen Maya Q’eqchi’, Turnschuhe und eine zweifarbige Regenjacke.

Bernardo Caal ist der Sprecher und das bekannteste Gesicht der Umweltbewegung "Friedlicher Widerstand von Cahabón", die 2015 in einigen Dörfern rund um die Kreisstadt Santa María Cahabón gegründet wurde und der mittlerweile mehr als 190 Ortschaften in der Region angehören. Seit Jahren wehren sich Caal und seine Mitstreiter*innen gegen den Bau mehrerer Wasserkraftwerke im Norden Guatemalas. Genau das könnte der Grund dafür sein, dass die Justiz den 50-Jährigen nicht in Ruhe lässt.

Engagiert für Umwelt und Gewerkschaftsrechte

"Alles begann, als die ersten schweren Baumaschinen mit dem Logo der Grupo Cobra auftauchten", erinnert sich Caal im Hotel gegenüber der Kathedrale von Cobán. Die Provinzstadt rund 200 Kilometer nördlich von Guatemala-Stadt ist das Zentrum des Verwaltungsdistrikts Alta Vera­paz, der für Kaffee und Kardamom bekannt ist, aber auch als wasserreichste ­Region des mittelamerikanischen Landes gilt. Dort stieß Bernardo Caal im Jahr 2015 erstmals auf Informationen zu einem Bauvorhaben in seiner Nachbarschaft. "Die Dokumente belegten, dass Lizenzen für den Bau der Wasserkraftwerke Oxec I und Oxec II am Río Cahabón für die Jahre 2013 und 2015 vergeben worden waren – ohne Mitsprache der Bevölkerung von Santa María Cahabón", erzählt er und zieht missbilligend die Stirn in Falten. Caal war davon direkt betroffen. Er wuchs in Sepos Semococh auf, nur ein paar Kilometer von Santa María Cahabón entfernt. Zu Beginn der 1990er Jahre war er in seinem Heimatdorf Grundschullehrer geworden und unterrichtete Spanisch und seine Muttersprache Maya Q’eqchi’. Gleichzeitig engagierte er sich für Umweltschutz und setzte sich für Gewerkschaftsrechte ein.

Es sei nur folgerichtig gewesen, dass er 2015 zum Sprecher und Koordinator des "Friedlichen Widerstands von Cahabón" gewählt worden sei, meint Claudia Samayoa, die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Udefegua. "Er ist ein Symbol des lokalen Widerstands der Maya Q’eqchi’", sagt sie. Denn er habe mit einer einstweiligen Verfügung gegen den Bau von Oxec II und einer Klage gegen das für Bergbau zuständige Ministerium wegen "illegaler Erteilung einer Konzession" für ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes gesorgt.

Hunderte vor dem Parlament

Hinzu kamen die von ihm organisierten Proteste in der Hauptstadt. Hunderte Maya Q’eqchi’ fuhren 2015 nach Guatemala-Stadt, protestierten vor dem Parlament, dem Präsidentenpalast und der spanischen Botschaft. Die Botschaft traf es aus gutem Grund, sagt Caal. Die Firmengruppe Grupo Cobra, die die Bauarbeiten an Oxec I und II leitet, gehört dem spanischen Bauunternehmer Florentino Pérez, der auch Präsident des weltweit ­bekannten Fußballclubs Real Madrid ist.

"Das war illegal, denn der Bau verstößt gegen die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker, die sowohl von Spanien als auch von Guatemala ratifiziert wurde", sagt Caal. Das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorgani­sation regelt, dass indigene Völker über große Bau- und Fördervorhaben, die ihre Lebensbedingungen beeinflussen, vorab informiert und um ihre Zustimmung ­gebeten werden müssen. Beides erfolgte bei der Planung von Oxec I und II nicht, obwohl der Río Cahabón für die Maya Q’eqchi’ heilig ist. Für den Rechtsbruch war der damalige Bergbauminister Erick Archila verantwortlich. Er gehörte zur korrupten Regierung des damaligen Präsidenten Otto Pérez Molina. Während nach Archila noch immer gefahndet wird, wurde Pérez Molina im ­Dezember 2022 zu 16 Jahren Haft wegen Korruption verurteilt.

2015 beantragte Bernardo Caal die Einstellung der Bauarbeiten am Wasserkraftwerk Oxec II. Für seine Gegner*innen war das der Startschuss für eine Diffamierungskampagne, die ihn ins Gefängnis brachte. Am 30. Januar 2018 wurde der Umweltschützer inhaftiert und im November 2018 auf Grundlage konstruierter Anklagen zu sieben Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Zu Unrecht, wie die damalige UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte indigener Völker in einer Erklärung nach einem Besuch im Gefängnis von Cobán 2019 ausführte: "Die Verurteilung von Herrn Caal Xol wegen schwerer Freiheitsberaubung und schweren Diebstahls einer Bohrmaschine, eines Werkzeugkastens und eines Glasfaserkabels ist unverhältnismäßig und beruht in erster Linie auf Zeugenaussagen von Angestellten des Unternehmens", schrieb Victoria Tauli-Corpuz.

Handverlesene Stimmberechtigte

Eine Einschätzung, die auch Amnesty International teilte. Die Menschenrechtsorganisation erklärte Bernardo Caal im Juli 2020 zum gewaltlosen politischen ­Gefangenen und setzte sich unter anderem beim Briefmarathon 2021 für ihn ein: Mehr als eine halbe Million Briefe an die Behörden forderten seine Freilassung. Für den im überfüllten Gefängnis von Cobán inhaftierten Caal war das "eine wichtige moralische Unterstützung", wie er sagt. Im März 2022 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen, doch die Justizfarce geht weiter. "Es gibt eine zweite Anklage aus dem Jahr 2017", berichtet der Aktivist. "Ich werde beschuldigt, vom Staat ein Lehrergehalt bezogen zu haben, ohne unterrichtet zu haben. Allerdings war ich ganz legal für Gewerkschaftsarbeit frei­gestellt." Obwohl er dies bereits 2017 vor Gericht mit Dokumenten nachgewiesen hatte, wurde die Anklage nicht fallen gelassen. "Ich darf nicht unterrichten und muss mich erneut vor Gericht verantworten", kritisiert er.

Die Justiz habe ihre Unabhängigkeit längst verloren, meint Claudia Samayoa. "Mehr als zwei Dutzend Mitarbeiter*innen der Justiz mussten das Land in den vergangenen zwei, drei Jahren verlassen. Richter*innen werden bedroht, Staatsanwält*innen inhaftiert." Das Beispiel von Bernardo Caal zeige, dass die Justiz willfährig sei und sich nach den ökonomischen Interessen der Eliten richte, sagt Samayoa. Auch beim Wasserkraftwerk Oxec II hat die Justiz eine Lösung im Sinne der Investoren gefunden: "Zwar ordneten die Gerichte die Befragung der indigenen ­Gemeinde in direkter Nähe an, aber die Stimmberechtigten waren handverlesen", kritisiert Bernardo Caal. Oxec I und II sind seit ein paar Jahren in Betrieb. Vom erzeugten Strom haben die Maya Q’eqchi’ nichts. "Wir sitzen meist im Dunkeln", kritisiert Bernardo Caal.

Für ihn geht der Kampf weiter, und gleichzeitig arbeitet er an einem Buch über die Haft, den Widerstand der Maya Q’eqchi’ und deren Geschichte. Es soll noch vor der Präsidentschaftswahl im Juni 2023 erscheinen. Deswegen schreibt er, und schreibt und schreibt – wenn er nicht gerade zu einer Gerichtsverhandlung nach Cobán muss.

Knut Henkel arbeitet als freier Korrespondent in Lateinamerika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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