Amnesty Journal Dänemark 25. März 2015

"Das ist eine neue Qualität des Antisemitismus"

"Das ist eine neue Qualität des Antisemitismus"

Micha Brumlik: Der Erziehungswissenschaftler und Publizist im Gespräch: © Stefan Boness/ Ipon Micha Brumlik: Der Erziehungswissenschaftler und Publizist im Gespräch

Fünf jüdische Bürger, die bei Attentaten in Paris und Kopen­hagen getötet wurden, sowie alltägliche Übergriffe überall in Europa zeugen von einem verstärkten Antisemitismus. In Deutschland stieg die Zahl antisemitischer Straftaten von 788 im Jahr 2013 auf 1.076 im Jahr 2014, und der Zentralrat der Juden warnte davor, in "Problemvierteln" eine Kippa zu tragen. Im ­Januar debattierte die UNO-Vollversammlung erstmals in ­ihrer Geschichte über Antisemitismus. Ein Interview mit Micha Brumlik.

Paris und Kopenhagen zeigten es zuletzt: Immer häufiger kommt es zu tödlichen Anschlägen auf jüdische Bürger in Europa. Erreicht der Antisemitismus damit eine neue Qualität?
Die mörderischen Anschläge vor allem in Frankreich, aber auch in Dänemark zeigen ein Bild, das es seit dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls im westlichen Europa nicht gegeben hat. Das ist eine neue Qualität des Antisemitismus. Zugleich hat es antisemitische Einstellungen und Haltungen schon immer gegeben, das ist nichts Neues.

Jenseits dieser extremen Gewalttaten – wie gefährlich ist es gegenwärtig in Europa, seinen jüdischen Glauben alltäglich und offen zu praktizieren?
Es kommt darauf an, wo man wohnt. Sogar in Paris sind die Stadtquartiere, in denen die Oberschicht oder die gehobene Mittelschicht wohnt, wenig problematisch. Charakteristischerweise haben sich all diese Morde und Übergriffe in den Vororten ereignet, in denen eine ärmere Bevölkerung lebt, die aus nordafrikanischen Immigranten muslimischer und nicht-muslimischer Herkunft zusammengesetzt ist.

In Deutschland wird der Vorwurf des Antisemitismus gerne auf Muslime oder Islamisten abgewälzt. Halten Sie das für zulässig?
Nein, da genügt ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik: Für antisemitische Vergehen sind nach wie vor vor allem deutsche Rechtsextremisten verantwortlich, die keineswegs ­eingewandert sind. Meinungsumfragen zufolge ist der Antisemitismus unter Muslimen keineswegs ausgeprägter als innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Allerdings gibt es hierbei auch immer ein Dunkelfeld. Den Berliner Rabbiner Daniel Alter schlugen vor knapp zwei Jahren vermutlich junge Immigranten nieder.

Was hilft gegen den gegenwärtigen Antisemitismus?
Es ist wichtig, mit Jugendlichen zu arbeiten, ihnen aufzu­zeigen, was das Judentum ist, und ihnen deutlich zu machen, dass Judentum und die jeweilige Politik israelischer Regierungen nicht dasselbe sind. Denn wichtig ist: Der klassische Antisemitismus, der eine jüdische Weltverschwörung zusammen­fantasiert, spielt kaum noch eine Rolle.

Wer heute als Anti­semit "up to date" sein will, präsentiert sich als sogenannter Israel­kritiker – was im Umkehrschluss nicht heißt, dass alle Leute, die, aus welchen Motiven auch immer, die jeweilige Politik ­israelischer Regierungen kritisieren, deswegen Antisemiten sind. Was aber auffällt: Es gibt keine Englandkritik, keine Frankreichkritik, aber eine Kapitalismuskritik, eine Islamkritik und eine Israelkritik. Schon die Semantik zeigt, dass da etwas nicht stimmt.

Ein Gerichtsurteil aus Wuppertal machte zuletzt Schlagzeilen: Können Gewalttäter versuchen, eine Synagoge anzuzünden, ohne dabei "per se antisemitisch" zu handeln, wie es der Richterspruch nahelegt?
Das ist ein Fehlurteil. Die Richter meinten vermutlich, die Intentionen der Täter erkannt zu haben, und dachten wohl, sie hätten es mit einem dummen Jungenstreich zu tun. Aber auch dumme Jungenstreiche können antisemitisch motiviert sein.

Fragen: Andreas Koob

Micha Brumlik
Erziehungswissenschaftler und Publizist, ist gegenwärtig Senior Advisor am Zentrum Jüdische ­Studien Berlin-Brandenburg. Der 67-Jährige ist emeritierter Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., einer ­seiner Schwerpunkte ist Antisemitismusforschung.

Weitere Artikel