Amnesty Journal Rumänien 21. Mai 2014

Die Unerwünschten

Sie sind EU-Bürger, leben jedoch wie in einem Land der Dritten Welt: Im rumänischen Ort Miercurea Ciuc hausen 150 Roma in einem Slum neben der städtischen Klär­anlage. Sie fristen ein Dasein am untersten Rand der ­Gesellschaft – wie die meisten Roma in Rumänien.

Von Keno Verseck

Der Vater war Trinker und hatte die Familie verlassen. Die Mutter interessierte sich nicht für ihr Kind. Gleich nach der Geburt gab sie Csaba Blénesi in ein Heim. Seine frühesten Erinnerungen sind die an Schläge von Erziehern, daran, dass sie ihn einen "dreckigen Zigeunerbastard" nannten und dass unter den Kindern das Recht des Stärkeren herrschte.

Mit vierzehn kam er wegen Diebstahls zum ersten Mal in ein Jugendgefängnis, das war 1984. Von da an war sein Leben eine Abfolge von Haftstrafen. Mal saß er wegen Einbruchs oder Diebstahls, mal wegen Körperverletzung.

Jetzt ist Csaba Blénesi 43 Jahre alt, er hat mehr als die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen verbracht. Er sieht aus wie ein alter Mann, ein Großteil seiner Zähne fehlt, vor einigen Jahren fing er sich im Gefängnis Tuberkulose ein.

Miercurea Ciuc, eine Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern, liegt in Ostsiebenbürgen, einer armen Region Rumäniens, in der vor allem Ungarn und ungarischsprachige Roma siedeln. Csaba Blénesi lebt in einem Roma-Slum am südwestlichen Stadtrand, direkt neben der städtischen Kläranlage, am Ende eines Weges, der den Namen "Frühlingsstraße" trägt. Auf dem 3.000 Quadratmeter großen Gelände stehen ein Dutzend Wohncontainer aus Blech und ebenso viele Bretterhütten, überall liegt Müll herum, halbnackte Kinder spielen trotz der Kälte im Schlamm. Es gibt einen einzigen Wasserhahn für 150 Leute, keine Kanalisation, geheizt wird mit eisernen Öfen.

Bis Mitte 2004 lebte ein großer Teil der hiesigen Roma in der Innenstadt von Miercurea Ciuc. Die meisten Wohnungen waren völlig heruntergekommen, teilweise baufällig, die hygienischen Zustände unhaltbar, deshalb ließ der Stadtrat die Bewohner evakuieren. Ein Teil der Roma zog in einen Slum im Ortsteil Șumuleu am nördlichen Stadtrand, einen anderen Teil brachte der Stadtrat auf das Gelände neben die Kläranlage und stellte Wohncontainer auf, sieben auf zweieinhalb Meter groß. Einigen Familien gestattete man, Hütten zu bauen. Es hieß, die Roma würden hier nur vorläufig untergebracht sein, man wolle sich um bessere Unterkünfte kümmern. Doch aus dem Provisorium sind inzwischen fast zehn Jahre geworden. Einige Wohncontainer sind durchgerostet, in manchen kleinen Bretterhütten drängen sich nachts bis zu zwanzig Leute.

Leben auf zwölf Quadratmeter
Auch Csaba Blénesi und seine Lebensgefährtin Gyöngyi Moldován, 32, leben seit damals im Slum neben der Kläranlage. Sie haben sich eine winzige Hütte gebaut, zwölf Quadratmeter, einen Meter siebzig hoch, ein kleines Stück überdachter Erdboden dient als Vorraum, Küche und Waschstelle.

Die Eheleute bekommen jeweils achtzig Euro Sozialhilfe im Monat, dafür müssen sie fünf Tage die Woche gemeinnützige Arbeit leisten. Sie verdienen sich etwas Geld hinzu, indem sie Metallschrott sammeln. Im Sommer und Herbst pflücken sie im Wald Blaubeeren und sammeln Pilze, die sie dann am Rand des Marktes feilbieten.

Das Paar hat sechs Kinder, fünf wurden von den Behörden in einem Kinderheim untergebracht. An Wochenenden kommen die fünf manchmal zu Besuch. Die kleinste Tochter, Mária, ist sechs Jahre alt und lebt bei ihren Eltern.

An diesem Nachmittag liegt sie auf dem Bett und schläft. Fliegen krabbeln über ihr Gesicht. Einige Male verscheucht Gyöngyi Moldován die Fliegen aus dem Gesicht ihrer Tochter, aber irgendwann gibt sie auf. Schließlich legt eine Nachbarin, die gerade zu Besuch ist, der Kleinen ein Stück Tüllgardine über das Gesicht. Csaba Blénesi blickt auf seine Tochter. "Es ist gut, dass die anderen im Familienheim sind", sagt er. "Hier können sie unmöglich leben."

Dauerhaftes Provisorium
Dritte-Welt-Verhältnisse in einem EU-Land: Ähnlich wie das Ehepaar leben die meisten Roma in Rumänien. Rund 620.000 Roma gibt es offiziell im Land, tatsächlich sind es wohl eher eineinhalb bis zwei Millionen.

Im ostsiebenbürgischen Szeklerland, der Region in der auch die Stadt Miercurea Ciuc liegt, ist die Situation der Roma besonders perspektivlos. Die gesamte Gegend ist strukturschwach. Es gibt kaum Industrie, der Tourismus ist trotz idyllischer Landschaften schwach entwickelt. Weil sie sonst keine Arbeitsplätze finden, leben viele Bewohner von Subsistenz-Landwirtschaft oder verdingen sich von Frühjahr bis Herbst als Gastarbeiter im Nachbarland Ungarn. Die Roma stellen geschätzte sechs bis acht Prozent der regionalen Bevölkerung, die meisten sprechen nur Ungarisch und kein Rumänisch, in anderen Landsteilen können sie daher nicht auf Arbeitssuche gehen.

Besuch beim Stadtrat von Miercurea Ciuc. Der stellvertretende Bürgermeister Attila Antal ist der Zuständige für die Probleme der Roma. Er reagiert missmutig auf das Thema. "Die Leute in der Frühlingsstraße sind selbst für ihre Situation verantwortlich", sagt Antal. "Wir versuchen ihnen zu helfen, aber sie wollen unsere Hilfe oft nicht. Zum Beispiel ist dort alles zugemüllt, obwohl wir die Kosten für die Müllabfuhr tragen."

Immerhin einen Erfolg kann die Stadt vorweisen: Fast alle Kinder besuchen eine Grundschule, weil der Stadtrat das Lehrmaterial für die Kinder und die Schulspeisung bezahlt. Attila Antal sieht trotzdem keine Perspektive für die Roma. Je länger das Gespräch dauert, desto mehr macht er seinem Ärger Luft. "Die Zigeunerfrage wurde noch nirgendwo gelöst", sagt er. "Ganz Westeuropa schreibt uns seit zwanzig Jahren vor, was wir zu tun und zu lassen haben. Aber jetzt, wo sie die Zigeuner selbst am Hals haben, sind sie überrascht und wollen sie am liebsten abschieben."

Das Gelände in der Frühlingsstraße sollte nur ein vorläufiger Wohnort sein. Wie geht es weiter, im Jahr zehn des Provisoriums? Antal zuckt die Schultern. "Wir wissen auch nicht, wie es weitergehen soll."

Enge Bindung
"Die Roma sind doch Menschen wie alle anderen auch", sagt Irén Zaiba halb entrüstet, halb verwundert, so als könne man das gar nicht anders sehen. Die Fünfzigjährige arbeitet als Lehrerin und Direktorin der János-Xantusz-Grundschule im Ortsteil Șumuleu von Miercurea Ciuc. Hier, im Norden, wohnen eigentlich die Bessersituierten der Stadt, es gibt viele Villen und schicke neue Einfamilienhäuser. Doch am Rand des Ortsteils befindet sich neben Äckern der zweite Roma-Slum von Miercurea Ciuc, hier leben etwa 150 Roma ebenfalls in völlig heruntergekommenen Hütten.

Die Kinder der hiesigen Roma-Familien gingen schon immer auf die János-Xantusz-Grundschule, die Schule ihres Einzugsgebiets. Irgendwann, einige Jahre nach dem Ende der Diktatur, erinnert sich Irén Zaiba, begannen immer mehr ungarische Eltern, ihre Kinder auf andere Grundschulen zu schicken. Sie wollten nicht, dass ihre Sprösslinge mit Roma-Kindern zusammen lernten, weil sie der Meinung waren, dass diese das Niveau drückten und dass sich Irén Zaiba zu viel um die Roma-Kinder kümmerte. So entwickelte sich die János-Xantusz-Grundschule schließlich zu einer Schule, auf die nur noch Roma-Kinder gehen.

Natürlich können grundsätzlich auch rumänische Kinder kommen, doch es waren schon lange keine mehr angemeldet. Irén Zaiba billigt das nicht, aber sie sagt, sie könne die Eltern subjektiv verstehen. "Die Eltern der meisten Roma-Kinder sind Analphabeten, sie haben zuhause noch nie einen Stift in der Hand gehabt, während andere Kinder zum Teil schon das Alphabet kennen. Deshalb müssen wir hier erst einmal mit Kindergarten- und Vorschulniveau anfangen."

Irén Zaiba liebt ihre Schulkinder, im Unterricht spricht sie oft zärtlich mit ihnen. Obwohl sie für einen Hungerlohn von umgerechnet 250 Euro im Monat arbeitet, würde sie die Schule niemals verlassen. "Da die Eltern meistens Analphabeten sind, bin ich im Lernprozess der Kinder oft die einzige Bezugsperson, und daher habe ich zu den Kindern eine sehr enge Bindung. Sie sind fast wie meine eigene Familie. Ich möchte ihnen so viel wie möglich geben, denn wie alle Kinder in der Welt haben sie das Recht auf eine schöne Kindheit und darauf, dass man sich mit ihnen beschäftigt."

"Ich lerne gerne."
Wenn der Name Irén Zaiba fällt, dann lächelt István Ötvös, und seine Augen leuchten. Er war ihr Grundschüler. Jetzt ist er siebzehn, geht auf ein Gymnasium und macht eine Berufsausbildung zum Kfz-Schlosser. "Ich lerne gerne und Frau Zaiba hat mich zum Lernen ermutigt", sagt István. "Ich will etwas aus meinem Leben machen, ich habe die Nase voll vom Elend."

István lebt im Slum von Șumuleu. Er lebt mit seinen Eltern und seinen sechs Geschwistern in einer kleinen Hütte: neun Menschen auf sechzehn Quadratmetern. István ist der Älteste, nachts schläft er zusammen mit drei Geschwistern, aneinander gedrängt wie Sardinen in einer Dose.

Oft wacht er nachts auf. Von dem Gedränge und davon, dass die Nachbarn draußen wieder Musik in voller Lautstärke hören, trinken und schreien. Es hat keinen Sinn, sie darum zu bitten, leiser zu sein. Es käme nur zum Streit, vielleicht zu einer Schlägerei.

Wenn er nicht mehr einschlafen kann, malt er sich seine Zukunft aus. Noch ein Jahr Schule und Lehre, dann wird er anfangen, zu arbeiten. Der Chef der Werkstatt hat ihm eine Stelle versprochen. Er wird Geld verdienen. Irgendwann ein Grundstück kaufen, ein Haus bauen. Er wird seine Eltern und seine Geschwister mitnehmen. Er wird alles mit Bedacht planen, damit nichts schief geht und sie nicht irgendwann wieder hierher zurück müssen, in den Dreck und das Elend.

Mária Ötövs, Istváns Mutter, ist erst 36, neben ihrem Sohn sieht sie aus wie dessen ältere Schwester. Sie ist Analphabetin. Sie und ihr Mann beziehen Sozialhilfe, außerdem Kindergeld, zusammen haben sie etwa 200 Euro im Monat für die ganze Familie. Die Eheleute sammeln Plastikflaschen, das bringt ihnen im Monat nochmal zwanzig, dreißig Euro. Mária Ötvös ist stolz auf ihren großen Sohn István. "Meine Kinder sollen es einmal besser haben", sagt sie, "deshalb habe ich sie immer streng ermahnt, zu lernen."

Dreimal in der Woche ist Schule, dann steht István um halb sieben auf, an den beiden anderen Tagen, wenn er in die Autowerkstatt muss, eine Stunde früher. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen, macht Feuer im Ofen, dann geht er raus, vorbei an Kindern, die barfuß im Matsch herumlaufen, und holt einen Eimer Wasser aus dem Gemeinschaftshahn. Seine Mutter brüht Kaffee auf, während er ein Stück Brot mit Leberpastete oder Fleisch­wurst isst so wie die anderen Geschwister.

Die Autowerkstatt liegt am anderen Ende der Stadt. Um Viertel nach sechs radelt István los. Er muss um sieben anfangen, aber er ist immer ein bisschen früher da, weil er seinem Chef beweisen möchte, dass er pünktlich sein kann.

István hat keine Fehlstunden, er ist der geschickteste Lehrling und erledigt gewissenhaft alle Arbeiten. Das sagt sein Chef und Lehrmeister Levente Balázs, der auch Eigentümer der Kfz-Werkstatt ist. "Die Schule hat ihn letztes Jahr hergeschickt. Bei zwei anderen Werkstätten wollten sie ihn nicht haben, weil er Zigeuner ist. Ich war auch skeptisch. Aber ich wollte ihm eine Chance geben. Bis jetzt war alles gut. Er hatte einige Probleme am Anfang, aber jetzt ist er besser und fleißiger als die anderen Lehrlinge, die keine Zigeuner sind."

Hat ihn das überrascht? "Ja", sagt Levente Balázs.
Hat sich sein Bild über Roma geändert, seitdem István sein Lehrling ist?

"Nein", sagt Levente Balázs. "Ich halte nicht viel von ihnen, ganz ehrlich. Nur mein Bild von István hat sich geändert. Er ist eine Ausnahme. Er ist hier willkommen, aber nur er. Seine Kumpel und seine Sippschaft soll er nicht hierher bringen."

Der Autor ist Südosteuropa-Korrespondent.

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