Blog Irak 07. November 2014

Peschmerga begehen im Irak Racheakte an Arabern

Kurdische Peschmerga konnten den "Islamischen Staat" aus einigen irakischen Dörfern verdrängen. Dabei verübten sie offenbar Racheakte auf die arabische Bevölkerung.

Das nordirakische Dorf Barzanke ist menschenleer. Anders als in den umliegenden Dörfern, die wie Barzanke von Peschmerga-Streitkräften im Kampf gegen den "Islamischen Staat" zurückerobert wurden, ist kein einziger Bewohner zurückgekehrt.

Als ich von Haus zu Haus streife, wird mir klar weshalb: Es gibt schlichtweg nichts mehr, wofür sich eine Rückkehr lohnen würde. Das Dorf, das der IS im August besetzt hatte, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Einige Häuser scheinen durch US-Luftschläge zerstört worden zu sein. Andere dürften die Peschmerga angezündet haben, um die IS-Kämpfer zu vertreiben. Doch die meisten Häuser wurden von innen in die Luft gesprengt.

Auf Spurensuche

Im Voraus hatten einige Peschmerga mir gegenüber bestätigt, dass ihre eigenen Kämpfer die Häuser gesprengt hätten, weil die Dorfbewohner den "Islamischen Staat" unterstützen würden. Die Peschmerga, die derzeit im Dorf stationiert sind, sagen, die IS-Kämpfer hätten alle Häuser vor ihrem Abzug gesprengt. Doch vor dem Hintergrund der Gefechte erscheint mir das unglaubwürdig. Schließlich zerstörte der IS bei seinem Abzug auch keines der nahegelegenen kurdischen Dörfer. Weshalb sollten sie ausgerechnet ein arabisches Dorf auslöschen?

Wieder andere Kämpfer behaupten, sie selbst hätten die Häuser zerstören müssen, weil sie mit Sprengfallen versehen gewesen wären und raten auch mir, das Dorf nicht zu betreten. Und doch spaziert einer von ihnen seelenruhig durch die Straßen und fotografiert die Ruinen. Zwei große Hunde – die letzten verbliebenen Dorfbewohner – streunen umher, ohne eine Explosion auszulösen. Auch ich laufe das Dorf stundenlang ab, ohne dass etwas geschieht.

 

Zerstörte Häuser in Barzanke. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Die Version eines weiteren Kämpfers lautet schließlich, dass die Zerstörung Folge eines Kampfes sei. Ich wende ein, dass sich im Dorf weit und breit keine Spuren eines Gefechts finden – keine Einschusslöcher, keine verbrauchte Munition oder Patronen. Er erklärt, sie hätten die Patronenhülsen eingesammelt, um den zurückkehrenden Bewohnern den Anblick zu ersparen. Bei dieser Antwort blickt selbst sein Kollege neben ihm verwirrt drein. Soldaten verschwenden in einer Krisensituation ihre Zeit nicht damit, Munition einzusammeln. Schon gar nicht in einem Gebiet, in dem es angeblich nur so vor Sprengkörpern wimmelt.

Schließlich geben die Kämpfer die Erklärungsversuche auf und beginnen damit, die Zerstörungen zu rechtfertigen: Die Dorfbewohner, arabische Sunniten, wären schon Terroristen gewesen, bevor die IS -Truppen das Dorf eroberten. Nun hätten sie sich dem IS angeschlossen und würden deshalb nicht zurückkommen. Auch in andere Dörfer, die von den Peschmerga zurückerobert wurden, sind nur kurdische Bewohner zurückgekehrt. Der Tenor dort ist überall derselbe:

"Die Araber haben sich mit den Da’esh (Anm.: Bezeichnung der Einheimischen für den IS) zusammengetan – sie können nicht mehr zurück."

"Sie haben es nicht anders verdient"

In Zummar spreche ich mit einem höflichen, jungen Kurden. Er redet leise und mit sanfter Stimme: "Wir werden die Häuser der Araber sprengen, damit sie nicht zurückkehren. Sie haben es nicht anders verdient." Der krasse Gegensatz zwischen seinem sanftmütigen Auftreten und der Härte seiner Worte schockieren mich.

Auf den Jalousien mehrerer Läden entlang der Hauptstraße prangt in frischer Farbe das Wort "Kurdisch". Was das zu bedeuten habe, frage ich ein paar Männer, die vor den Geschäften stehen. "Damit die Leute wissen, wem die Häuser gehören und die Bewohner der Häuser keine Probleme bekommen", so die Antwort. "Und was ist mit den Grundstücken, die den arabischen Bewohnern gehören?", frage ich. Die Männer zucken mit den Schultern, antworten nicht.

Auf dem Rückweg komme ich etwa 100 Kilometer von der Zummar entfernt mit einem älteren Peschmerga ins Gespräch. Er erzählt, dass er erst vor kurzem sein Jurastudium abgeschlossen habe, weil er seine ganze Jugend mit dem Kampf gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein verbracht hätte. Als ich sage, wie sehr mich die Bilder der Zerstörung in Barzanke aufgewühlt haben, kontert er nüchtern:

"Nun, damals waren es kurdische Dörfer, in denen Saddam Hussein Araber angesiedelt hat. Jetzt holen sich die Kurden eben ein paar zurück!"

Summarische Hinrichtungen von IS-Kämpfern?

Es gibt Vorwürfe, Peschmerga hätten mehrere gefangene IS-Kämpfer exekutiert, nachdem sie die Kontrolle über Barzanke erlangt hatten. Ein kurdischer Kämpfer, der vergangene Woche von einem Journalisten heimlich dabei gefilmt worden war, wie er mit den unrechtmäßigen Tötungen prahlte, zog seine Behauptungen später wieder zurück. Andere Beweise existieren nicht.

Bis jetzt konnten die Kurden nur vergleichsweise kleine Gebiete vom IS erobern. Doch sollten sie ein größeres Territorium besetzen, besteht die Gefahr, dass die Racheangriffe auf arabische Sunniten zunehmen und sich die religiösen Auseinandersetzungen im Irak weiter verschärfen.

Die Regierung der kurdischen Autonomieregion muss unverzüglich jegliche Fälle, in denen das Völkerrecht missachtet wurde, untersuchen. Praktiken, die Kriegsverbrechen darstellen, müssen verhindert und die Verantwortlichen vor Gericht gebracht werden.

Darüber hinaus sollten die Regierungen der europäischen Staaten, der Vereinigten Staaten und anderer Staaten, die die Peschmerga derzeit mit Waffen beliefern, sie ausbilden und beraten, effektive Kontrollmechanismen einführen und sicherstellen, dass das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird.

Von Donatella Rovera (Krisenbeauftragte von Amnesty International)

Dieser Blogbeitrag wurde ursprünglich in der libanesischen Tageszeitung "An-Nahar" und im LIVEWIRE-Blog von Amnesty veröffentlicht.

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