Blog Brasilien 28. November 2014

Jung, Schwarz, Lebendig - Über die steigende Zahl an Tötungsdelikten unter Jugendlichen in Brasilien

Die brasilianische Sektion von Amnesty International hat Anfang dieses Monats eine Kampagne gestartet, die sich "Jovem Negro Vivo" ("Für das Leben junger Schwarzer") nennt.

Anfang dieser Woche warteten Menschen auf der ganzen Welt mit Spannung auf die finale Entscheidung einer US-amerikanischen Jury in einem Fall, bei dem ein Polizeibeamter einen jungen, unbewaffneten Afroamerikaner auf der Straße erschossen hatte. Michael Brown war am 9. August in der US-Kleinstadt Ferguson in Missouri erschossen worden. Der Fall stieß trotz der räumlichen Distanz auch hier in Brasilien auf enorme Resonanz. Der tragische Ablauf der Ereignisse, die schließlich zum Tod des Jugendlichen führten, hätte sich ebenso in den Straßen unserer Städte und Favelas zutragen können.

Von den 56.000 jährlichen Tötungsdelikten in Brasilien handelt es sich in 30.000 Fällen um junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren. Konkret bedeutet das: Höchstwahrscheinlich wird genau in diesem Augenblick ein junger Mensch in Brasilien getötet. Und wenn du heute ins Bett gehst, werden 82 Menschen gestorben sein. Es ist so, als würde alle zwei Tage ein kleines Flugzeug voller junger Menschen abstürzen und kein einziger überlebt. Das allein ist schon schrecklich genug, aber ein noch größerer Skandal ist die Tatsache, dass 77 Prozent dieser jungen Menschen afrobrasilianischer Herkunft sind.

Seit 1980 sind über eine Million Menschen in Brasilien umgebracht worden. Laut dem "Global Burden of Armed Violence"-Bericht von 2008 wurden zwischen 2004 und 2007 in Brasilien mehr Menschen getötet als in den zwölf größten Kriegen der Welt.

Insbesondere marginalisierte Bevölkerungsgruppen von Gewalt betroffen

Doch die Gewalt trifft nicht jede Gesellschaftsschicht gleichermaßen. So werden besonders häufig Menschen aus armen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen Opfer von Mord. Die Vorurteile und negativen Stereotypen, mit denen die Favelas und Außenbezirke behaftet sind, scheinen die Hemmschwelle für Verbrechen noch zu senken.

Gemäß seiner internationalen Menschenrechtsverpflichtungen muss Brasilien wirksame Maßnahmen ergreifen, um das Recht auf Leben zu schützen, und sich des Problems der rassistischen Diskriminierung annehmen. In der Polizeiarbeit dürfen daher die Unterschiede zwischen den ethnischen Bevölkerungsgruppen nicht noch institutionalisiert werden.

"Dia da Consciência Negra"

Am 20. November feierte Brasilien den "Dia da Consciência Negra" – einen Tag, an dem in Brasilien jährlich der Beitrag der Schwarzen Brasilianer_innen für die Gesellschaft gefeiert und auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht wird, gegen Diskriminierung und ihre negativen Folgen vorzugehen. Es gibt immer mehr Menschen, die es sich zum Ziel machen, die Rechte von Schwarzen Brasilianer_innen zu verteidigen. Doch ein Teil der Gesellschaft verschließt immer noch die Augen vor den tödlichen Auswirkungen der Gewalt auf unsere Jugend.

Auch wenn unzählige Schwarze Jugendliche erschossen werden, scheinen sie in Brasilien geradezu unsichtbar zu sein – entweder, weil sich die Bewohner ihrer Viertel an die vielen Toten gewöhnt haben, oder weil das Problem außer Sichtweite derjenigen ist, die an der Situation etwas ändern könnten. Gleichzeitig sind sie Opfer des staatlichen "Kriegs gegen Drogen" und eines militarisierten Polizeiapparats, der junge Leute – speziell solche mit afrobrasilianischer Herkunft – als potenzielle Feinde betrachtet. Nirgendwo auf der Welt werden so viele Menschen von Polizeikräften erschossen wie in Brasilien.

Bearbeitung der Gewaltprobleme steht nicht auf der Prioritätenliste

Traurigerweise wird diese Problematik in Brasilien inzwischen offenbar als normal hingenommen. Abgeordnete priorisieren sie nicht als Teil der nationalen politischen Agenda und viele wollten während der jüngsten Präsidentschaftsdebatte nicht darüber sprechen. Das Problem ist so alltäglich, dass es nicht mal mehr zur Schlagzeile taugt.

Das kann so nicht hingenommen werden. Es muss etwas geschehen. Darum hat die brasilianische Sektion von Amnesty International Anfang dieses Monats eine Kampagne gestartet, die sich "Jovem Negro Vivo" ("Für das Leben junger Schwarzer") nennt. Wir wollen, dass unsere Jugend lebt und glauben fest daran, dass wir die traurige Realität ändern können. Und du?

Von Atila Roque, Direktor von Amnesty International in Brasilien

Dieser Text wurde ursprünglich im LIVEWIRE-Blog von Amnesty International veröffentlicht.

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