Blog Argentinien 12. März 2014

Viva, Amnistía Internacional!

Aktivistinnen und Aktivisten der argentinischen Amnesty-Sektion bei einer Aktion während des weltweiten Amnesty-Briefmarathons am 7. Dezember 2013 in Buenos Aires.

Ich bin gerade in Argentinien auf Reisen gewesen und habe in Buenos Aires vier der sechs hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen der argentinischen Amnesty-Sektion getroffen: die geschäftsführende Direktorin Mariela Belski, den Pressesprecher Daniel Gutman, den Online-Redakteur Nicolás Corizzo und die Mitgliedschafts- und Verwaltungsreferentin Samanta Bona Müller.

Mascha Rohner ist Übersetzerin und Koordinatorin der Urgent Actions bei Amnesty International in Deutschland





In Buenos Aires begegnete ich schon einige Tage vor dem Treffen dem Thema Menschenrechte: Das Museo Nacional de Bellas Artes zeigt gerade eine Fotoausstellung mit Portraits der Mütter der Plaza de Mayo. Sie forderten jahrelang einmal wöchentlich auf der Plaza de Mayo direkt vor dem Sitz der Regierung, der Casa Rosada, Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder. Sie haben ihre Söhne und Töchter zwar nie wiedergesehen, aber seit sie an die Öffentlichkeit gingen, weiß die ganze Welt von den vielfach noch unaufgeklärten Morden an Gegnerinnen und Gegnern der argentinischen Militärdiktatur.

 

Demonstration der Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires im März 1996.

Einen Tag vor meinem Gespräch mit der argentinischen Sektion steht eine kleine Anzeige in der argentinischen Tageszeitung Página 12, in der dazu aufgerufen wird, am nächsten Tag ab 9.30 Uhr an einem Strafprozess teilzunehmen. In dem Verfahren stehen Personen vor Gericht, die einige der 30.000 Verschwundenen während der Militärdiktatur zu verantworten haben. Als "Desaparecidos" werden die Menschen bezeichnet, die zwischen 1976 und 1983 von den Schergen des Systems verschleppt wurden und nie wieder auftauchten.

"Damals gab es Amnesty in Argentinien noch nicht", erzählt der Pressesprecher Daniel Gutman, als ich von der Anzeige erzähle. "Aber Amnesty International spielte schon eine wesentliche Rolle, denn im November 1976 fand eine Mission nach Argentinien statt und Amnesty prangerte im Anschluss die Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militärdiktatur vor der Weltöffentlichkeit an." Über 80 Seiten umfasst der im März 1977 veröffentlichte Argentinien-Bericht. Er enthält u.a. die Namen der zu dieser Zeit nachweislich vermissten Personen.

Amnesty International Argentinien entstand erst viel später. 1988 gründete sich in Córdoba eine erste Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten. Angestoßen wurde dies von den beiden großen Amnesty-Konzerten mit Sting, Tracy Chapman, Bruce Springsteen und anderen Größen in Mendoza und Buenos Aires im Oktober 1988. Sie bildeten den Abschluss von insgesamt 20 Konzerten der "Human Rights Now"-Tour. "Daran erinnern sich die Leute lebhaft, wenn man mit ihnen über Amnesty spricht" , sagt der Online-Redakteur Nicolás Corizzo. "Das Konzert hat damals großen Eindruck gemacht".

Anfang der 1990er Jahre formierte sich eine Amnesty-Gruppe in Buenos Aires und die Aktivistinnen und Aktivisten dort stritten sich mit denen in Córdoba erst einmal um den "Markennamen" Amnesty. Während und nach der Militärdiktatur entstanden in Argentinien viele Menschenrechtsgruppen. Die gibt es bis heute und sie verfügen über langjährige Erfahrung und großes Wissen in ihren jeweiligen Bereichen. Die recht junge argentinische Sektion von Amnesty International kooperiert in der Regel mit den bestehenden NGOs.

Seit der Gründung hat die Sektion verschiedene Richtungswechsel und Höhen und Tiefen durchlebt. Heute hat sie sechs hauptamtliche Beschäftigte und eine helles, geräumiges Büro direkt an der Avenida 9 de Julio – zentraler geht es nicht.

Aktuell beschäftigt sich Amnesty Argentinien mit drei großen Themen: Die Sektion unterstützt die Forderung nach einem Ende der Straflosigkeit für Verbrechen der Franco-Diktatur, sie bereitet die Antifolterkampagne vor und setzt sich für die sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Ende 2013 veranstaltete Amnesty Argentinien dazu zusammen mit drei Fotografinnen die Foto- und Filmausstellung "11 Wochen, 23 Stunden, 59 Minuten  - der kriminalisierte Schwangerschaftsabbruch in Argentinien". Die Ausstellung in Buenos Aires zeigte Fotos von Frauen, die sich zu einem Schwangerschaftsabbruch bekennen. In der Ausstellung waren auch einige Männer zu sehen, die sich gemeinsam mit ihren Partnerinnen für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hatten. Die porträtierten Frauen und Männer beschreiben ihre Lage, warum sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben und sprechen sich gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der argentinischen Amnesty-Sektion in ihrem Büro direkt an der Avenida 9 de Julio. Büro direkt an der Avenida 9 de Julio

Im März 2012 entschied der Oberste Gerichtshof von Argentinien, dass bei Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren und bei einer Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden darf. Doch in der Praxis ist der Zugang der Frauen zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch nicht sichergestellt. Manche Argentinierinnen und Argentinier meinen, die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner wolle sich nicht auch noch mit der mächtigen Kirche anlegen, um das zu gewährleisten. In der Folge werden heute 60.000 Frauen im Jahr nach einem inoffiziell durchgeführten Abbruch in ein Krankenhaus eingeliefert und jährlich sterben noch heute 80 Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch. Ein argentinisches Thema, das viele bewegt und auch Konflikte erzeugt.

Themen, die wenig mit Argentinien zu tun haben, ziehen hingegen kaum Aktivismus nach sich. Das Interesse an internationalen Themen ist begrenzt. So berichtet die Direktorin Mariela Belski: "Die Situation in Syrien beispielsweise. So etwas spreche ich natürlich bei Lobbyterminen an. Wir machen dazu einen Pressetermin, führen eine Veranstaltung durch, aber mehr lässt sich bei derartigen Themen nicht machen. Wir müssen zum eigenen Land arbeiten."

Die Misshandlung und Folter von gewöhnlichen Strafgefangenen in den Gefängnissen des Landes ist eines der nächsten großen Themen, das Amnesty Argentinien im Rahmen der neuen weltweiten Antifolterkampagne an die Öffentlichkeit bringen will. Eine schwierige Thematik, denn viele Argentinierinnen und Argentinier finden es "nicht so schlimm", wenn die Menschenrechte verurteilter Straftäterinnen und -täter verletzt werden. Nicolás Corizzo weiß: "Da werden wir einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen".

"Welche Themen sind leichter zu vermitteln?", frage ich. "Die Rechte von Indigenen", sagt Samanta Bona Müller. "Landrechte, Gesundheitsversorgung und andere Rechte , die der indigenen Bevölkerung vorenthalten werden. Dazu gibt es einen relativ breiten Konsens bei Amnesty und Teilen der argentinischen Gesellschaft."

Der Sommerpause geht in Argentinien gerade zu Ende. "Wir stehen vor großen Herausforderungen", sagen meine vier Gesprächspartnerinnen und -partner übereinstimmend. Das nächste große Projekt ist die Antifolterkampagne. Damit startet die Sektion, wenn die beiden Campaignerinnen aus dem Urlaub zurückkommen. Es geht darum zu wachsen. 480 Mitglieder hat Amnesty Argentinien heute. Da gibt es noch viel Potenzial.

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