Amnesty Journal Vietnam 21. März 2018

Keine Fotos, bitte

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Konservative Hardliner in Vietnam haben etliche Dissidenten ins Exil gezwungen. Andere trotzen dem ­kommunistischen Regime.

Von Mathias Peer, Bangkok

Vor seiner Flucht aß Herr Hoàng noch einen letzten Teller Phở – die Nudelsuppe ist Vietnams Nationalgericht. Dann packte er seinen Koffer und machte sich auf den Weg. Er hatte sein Handy dabei, einen Computer, Kleidung und ein paar Ersparnisse. Herr Hoàng verabschiedete sich von niemandem. Seine Freunde und Verwandten sollten sich keine Sorgen machen. Er wollte auch nicht, dass jemand versuchte, ihn von seinem Plan abzubringen. Herr Hoàng war fest davon überzeugt, dass er das Richtige tat: In Saigon konnte er nicht länger bleiben. In seiner Heimat war es zu gefährlich geworden.

Herr Hoàng ist vietnamesischer Dissident. Vor sechs Jahren begann er damit, sich politisch zu engagieren. Er ging zu Demonstrationen und schrieb Artikel und Blog-Einträge, in denen er das kommunistische Regime in seiner Heimat kritisierte. Einfach war das noch nie: Vietnams Einparteienherrschaft unterdrückt abweichende Meinungen seit der Wiedervereinigung vor vier Jahrzehnten. Regimekritiker werden regelmäßig zu Haftstrafen verurteilt. In den vergangenen Monaten stieg der Druck auf die Aktivisten aber spürbar an: Dutzende friedliche Aktivisten und Blogger kamen ins Gefängnis. Menschenrechtler sprechen von einem beispiellosen Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit.

Zwei Monate nach seiner Flucht geht Herr Hoàng durch ein Wohnviertel in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Er trägt ein Kurzarmhemd, Sandalen und eine Dreiviertelhose. Zwischen Herrn Hoàng und seiner alten Heimat liegen mehr als 700 Kilometer und zwei Landesgrenzen. Richtig sicher fühlt sich der gut 40 Jahre alte Mann aber immer noch nicht. Er verweist auf Trịnh Xuân Thanh, einst Manager eines Staatskonzerns, der in Deutschland Asyl suchte und nach Überzeugung deutscher Ermittler vom vietnamesischen Geheimdienst zurück in seine Heimat verschleppt wurde. "Ich versuche, unerkannt zu bleiben", sagt der Aktivist. Hoàng ist deshalb auch nicht sein richtiger Name. Er will seine Geschichte nur unter einem Pseudonym erzählen.

Sie beginnt mit der Wut auf Vietnams großen Nachbarn: China. Das Land ist bei vielen Vietnamesen unbeliebt – besonders wegen seiner mit Vehemenz vorgetragenen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer. Inselgruppen, die Pekings Führung für sich reklamiert, sehen auch die Vietnamesen als die ihren an. Herr Hoàng bezeichnet sich selbst als Patrioten. Er hielt es deshalb für selbstverständlich, öffentlich dagegen zu protestieren, als China 2011 ein Erkundungsschiff in das umstrittene Gebiet schickte. Doch Vietnams Regierung ließ die Demonstranten nicht lange gewähren. Sie befahl ein Ende der Proteste und ließ Medienberichten zufolge Dutzende Aktivisten festnehmen. "Da wurde mir bewusst, dass das eigentliche Problem nicht in Peking liegt, sondern in Hanoi", erzählt Hoàng. "Ich habe dann angefangen, mich auf Menschenrechtsverletzungen zu fokussieren und darüber zu schreiben."

Dass die Menschenrechtslage in Vietnam derzeit besonders verheerend ist, bestätigen internationale Organisationen. Die ­liberale Denkfabrik Freedom House bezeichnet das Land in ihrem Jahresbericht 2018 als eines der unfreisten Länder der Welt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen listet Vietnam in ihrem Pressefreiheitsindex auf Rang 175 von 180 untersuchten Ländern. Amnesty International veröffentlichte im Januar eine Liste mit mehr als 90 Namen von gewaltlosen politischen Gefangenen in Vietnam.

Nach Ansicht von Beobachtern hängt das zuletzt besonders harte Vorgehen gegen Aktivisten mit einem Machtwechsel in der Kommunistischen Partei zusammen, in der 2016 konser­vative Hardliner die Führung übernahmen. Zudem interessiert sich Vietnams wichtigster Verbündeter, die USA, nicht mehr für Menschenrechtsfragen, seit Donald Trump Präsident wurde.

Wie sehr die Festnahmen die Aktivisten verunsichern, hat ­James Gomez, Amnesty-Regionaldirektor in Südostasien, Ende 2017 bei einer Menschenrechtskonferenz auf den Philippinen erlebt. Viele der vietnamesischen Teilnehmer trugen Sticker auf ihren Jacken und Hemden mit der Aufschrift "Keine Fotos, bitte". Ein Bild reiche schon aus, um in den Fokus der Behörden zu geraten, so die Befürchtung. "Die staatliche Überwachung nimmt zu", sagt Gomez. "Viele Aktivisten sind besorgt."

Die Sorge scheint berechtigt. Vietnam machte zuletzt mehrfach mit seinem harten Vorgehen gegen Dissidenten international Schlagzeilen: Im vergangenen Oktober wurde der 24 Jahre alte Blogger Phan Kim Khánh zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Regime beschuldigte ihn der staatsfeindlichen Propaganda – einer der gängigen Vorwürfe, um Kritiker mundtot zu machen. Im September erhielt der 36-jährige Menschenrechtler Gioan Nguyễn Văn Oai eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Er hatte gegen eine Stahlfirma protestiert, die giftige Chemikalien ins Meer geleitet und damit ein Fischsterben ausgelöst hatte. Demonstranten gaben der Regierung eine Mitverantwortung für den Vorfall. An den Protesten war auch Nguyễn Ngọc Như Quỳnh beteiligt – eine der populärsten Bloggerinnen Vietnams, die unter dem Spitznamen Mother Mushroom bekannt ist. Sie schrieb über Meinungsfreiheit und Polizeigewalt. Im Juni wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – Menschenrechtsgruppen waren empört.

Der Blogger Nguyễn Chí Tuyến aus Hanoi, der unter dem ­Namen Anh Chí bekannt ist, will bleiben – obwohl er sich alles andere als sicher fühlt. "Sie können festnehmen, wen immer sie wollen", sagt er. "Aber ich habe keine Angst." Anh Chí ist 43 Jahre alt. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder im Teenageralter und arbeitet als Vietnamesischlehrer und Übersetzer. Der Hauptgrund, weshalb jahrelang Zivilpolizisten vor seinem Haus lauerten, sind aber seine Aktivitäten im Internet. Anh Chí betreibt eine politische Facebook-Seite mit mehr als 40.000 Abonnenten. "Ich kämpfe für meine Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte", sagt er.

Wie gefährlich diese Arbeit ist, können Besucher von Anh Chís Facebook-Seite auf den ersten Blick erkennen. In der linken Spalte ist der Blogger mit blutüberströmtem Gesicht zu sehen. Das Foto wurde im Mai 2015 aufgenommen. Fünf Männer verfolgten ihn auf seinem Mofa und stoppten ihn. Dann schlugen sie mit Händen, Stöcken und Ziegelsteinen auf ihn ein. Die Attacke endete erst, als Passanten anhielten, um ihm zu helfen. Die Täter wurden bis heute nicht bestraft.

"Es ist ein tödliches Spiel mit einem gigantischen Gegner", sagt der Aktivist über seine Arbeit. Doch er will damit nicht aufhören: "Die vietnamesische Bevölkerung verlangt den Wandel, und niemand wird diesen Wandel aufhalten können."

Für Herrn Hoàng hat unterdessen im Exil in Bangkok ein neuer Kampf um seine Rechte begonnen. Thailand hat die ­Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet und garantiert politisch Verfolgten deshalb keinen Schutz. Hoàng muss deshalb mit seiner Abschiebung rechnen. Seine Zeit verbringt er hauptsächlich in einem Zimmer, das er sich am Stadtrand ­gemietet hat. "Ich versuche, nicht aufzufallen", sagt er. Seine kritischen Artikel schreibt er aber auch im Exil noch immer. 

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