Amnesty Journal Türkei Syrien 03. Juli 2023

Sicherheit in Trümmern

Vogelperspektive auf eine Stadt, deren Häuser von einem Erdbeben schwer zerstört wurden. Dächer sind eingestürzt, Trümmer liegen überall. Am Hoirzont erheben sich Hügel.

Im türkischen Erdbebengebiet sind Frauen und Kinder vermehrt Gewalt ausgesetzt. Zivilgesellschaftliche Initiativen tun ihr Bestes, um sie zu schützen.

Aus Hatay und Adana Sabine Küper-Büsch

In der Nacht des 6. Februars wurde die Familie Elgi* um 17 Minuten nach vier Uhr aus dem Schlaf gerissen. Sie wohnte in der Innenstadt von Antakya, das von dem Erdbeben besonders stark betroffen war. Nurgül Elgi hatte zehn Tage zuvor ihr drittes Kind zur Welt gebracht, und ihre Mutter Fatma war zu Besuch. Die Frauen beeilten sich, das Haus zu verlassen. Draußen waren es fünf Grad Celsius. Sie konnten in der Eile fast nichts mitnehmen. Auf der Straße erwartete sie ein Inferno – eingestürzte und einstürzende Häuser.

Dass sie überlebten, kommt den Frauen heute wie ein Wunder vor. Sie sitzen auf Plastikstühlen vor ihren Zelten in Serinyol in der Provinz Hatay nahe der syrischen Grenze. Nurgül Elgi zeigt ein Foto ihres eingestürzten Wohnhauses. Vier Stockwerke rutschten auf die Seite und demolierten auch ihr Auto, das dort stand. Großmutter Fatma hält den Enkel ganz fest im Arm. In den ersten Tagen hatten sie Notunterkünfte gebaut. Wegen der Kälte sorgten sie sich vor allem um das Neugeborene, sammelten Kleidung und Decken aus den Trümmern. Baby Murat gluckst, er trägt einen selbst genähten Strampler, die Oma ein lila T-Shirt aus Hilfsgüterlieferungen.

Viele Menschen verzweifeln

Die Elgis leben zusammen mit 278 ­anderen Erdbebenopfern in der Zeltstadt "Campus der Freunde", die der Musiker Mehmet Suavi Sungar gegründet hat. Sungar hatte am Abend vor dem Erdbeben ein Konzert in Diyarbakır gegeben und war am nächsten Morgen nach Hatay gereist, um zu helfen. Die 41 stabilen Zelte stammen aus Militärbeständen. "Wir haben großes Glück im Unglück", sagt Nurgül. "Hier sind die Bedingungen sehr viel besser als anderswo." Momentan haben sie kein Geld, um sich eine neue Wohnung in einer anderen Stadt zu mieten. Nurgül Elgis Mann Osman sucht im 200 Kilometer entfernten Adana nach Arbeit, bislang erfolglos.

Viele Menschen verzweifeln unter diesen Bedingungen. Unweit der Zeltstadt erschoss ein Vater am 4. April seine Tochter in ihrer Notunterkunft mit einem Jagdgewehr. Hinterher sagte er, es sei ein Unfall gewesen, er habe auf die Jagd gehen wollen. Die Umstände werden noch ermittelt. Was die Elgis besonders schockiert, ist der Missbrauch von jugendlichen Erdbeben­opfern in einem Krankenhaus. Zwei Schwestern aus Syrien, 13 und 18 Jahre alt, waren in Antakya nach zehn Stunden aus den Trümmern ihres Hauses gerettet und in das staatliche Krankenhaus gebracht worden. Dort herrschte Chaos, weil der Strom ausgefallen war. Die beiden Mädchen lagen verletzt in dem dunklen Gebäude. Ein Mann bot ihnen Hilfe an, raubte der Älteren ihren Goldschmuck und bedrängte die Jüngere sexuell. "Nachdem der Bruder zwei Tage später aus den Trümmern des Hauses geborgen wurde, vertrauten sich die Mädchen ihm an, so dass der Mann festgenommen werden konnte", empört sich Nurgül Elgi.

Eine Familie in einem Zelt in einem Zeltlager, die Eltern sitzen auf Plastikstühlen und haben Kleinkinder auf dem Schoß, die Töchter im Teenageralter stehen vor ihnen.

Familie Elgi und Selver Büyükkeleş im Zeltlager von Serinyol, Provinz Hatay (2023)

Zunahme von Kinderehen

Doch auch andere Formen von Missbrauch weiten sich aus. So wird in der Region zunehmend gegen das Mindestalter von 18 Jahren bei Eheschließungen verstoßen. Einen starken Anstieg befürchtet Gülan Önkol von der Kinderkommission der Lila Solidarität, einem feministischen Bündnis der sozialistischen Partei der gesellschaftlichen Freiheit (TPÖ). Eine Befragung stützt ihre Beobachtung: Ende März teilte die Unicef-Kinderschutzspezialistin Pınar Öktem Arıkan bedrückende Ergebnisse einer Untersuchung der Vereinten Nationen im Erdbebengebiet mit. Demnach gibt es bis zu 44 Prozent Kin­der­ehen in den Familien syrischer Geflüchteter und knapp 15 Prozent in türkischen Familien. Mädchen würden vor ­allem verheiratet, damit sie bei der Hausarbeit, in der Pflege oder in der Landwirtschaft helfen, aber auch um die Familie zu versorgen. 25 Prozent der befragten Männer gaben an, dass Mädchen ab 15 Jahren für sie keine Kinder, sondern Frauen seien, zehn Prozent erklärten, dass der Eintritt der Regelblutung für sie der Heiratsfähigkeit gleichkomme.

Ein Foto auf einem Handy, das ein zerstörtes Haus und ein von Trümmern verschüttetes Auto zeigt.

Das eingestürzte Wohnhaus der Familie Elgi mit dem verschütteten Auto.

Auch auf politischer Ebene sind solche Überzeugungen verbreitet. Der Abgeordnete der Nationalversammlung und Vorsitzende der radikalislamischen Hüda-Partei Zekeriya Yapıcıoğlu befürwortet die Kinderehe. Die Hüda-Partei ist als Teil der Regierungskoalition in den kommenden fünf Jahren mit vier Sitzen im türkischen Parlament vertreten. Zusammen mit anderen Konservativen des Parteienbündnisses von Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan will die Partei erreichen, dass der Mann wieder Oberhaupt der Familie ist, den Wohnort bestimmt und darüber ­entscheidet, ob Frauen arbeiten dürfen. Nach dem Erdbeben hatte die Aufsichtsbehörde für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) auf ihrer Webseite bereits die Heirat zwischen Eltern und Adoptivkindern ausdrücklich als religiös unbedenklich bezeichnet. Erst nach öffentlicher Empörung über die Anstiftung zum Kindesmissbrauch im Erdbebengebiet wurde die entsprechende Passage gelöscht.

Seit dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zur Prävention von häuslicher Gewalt im Sommer 2021 sind die an Frauen und Kindern verübten Straftaten in der Türkei deutlich gestiegen. Nach Angaben der zuständigen Behörde wurden 2022 landesweit 44.260 Frauen Opfer von Gewalt, im Jahr davor waren es noch 42.412. Zudem wurden 2.102 Fälle von Kindesmissbrauch aktenkundig, 2021 waren es 1.573. Im Erdbebengebiet multiplizieren sich die Risikofaktoren für Übergriffe, warnen Frauenrechtler*innen.

Ein Zelt in einem Zeltlager, der Boden ist mit Pappe und Teppichen ausgelegt, an den Rändern stehen improvisierte Sofas, zwei Kinder spielen auf dem Boden mit Spielzeugautos.

Das provisorische Zuhause der Familie Elgi in der Zeltstadt "Campus der Freunde"

Solidarität der Frauen

Die Zeltstadt steht neben einer ehemaligen Sportanlage der Stadtverwaltung von Serinyol. Der Pool im Garten ist leer, die Wasserrutsche verwaist. Selver Büyükkeleş sitzt daneben an einem Tisch. In einem der vier Zelte mit Hilfsgütern gibt es Bücher und Spielzeug. Den weiblichen Erdbebenopfern und ihren Kindern stehen inzwischen Toiletten und Duschen zur Verfügung. "In den ersten Tagen gab es überhaupt nichts, um auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen einzugehen. Keine Hygieneartikel oder Toiletten, keine Waschmöglichkeiten", erzählt sie. Die 27-Jährige ist Teil des landesweiten Netzwerks Frauen-Solidarität, in dem sich verschiedene Berufsgruppen und Frauenverbände zusammengeschlossen haben. Sie selbst ist Mitglied der Lila Solidarität.

Im Erdbebengebiet litten die Frauen vor allem unter der restriktiven Politik der Behörden, berichtet Büyükkeleş. Die junge Frau hat das Erdbeben in Armutlu überlebt, einem Viertel in Antakya, in dem vor allem arabische Alevit*innen wohnten. Zusammen mit etwa 400 Überlebenden hatte sie tagelang vergeblich auf Hilfe gewartet. "Die erste Maßnahme der Katastrophenschutzbehörde in Hatay war, eine Toilette zu beschlagnahmen, die wir im zentralen Sevgi-Park errichtet hatten", berichtet Büyükkeleş. "Auch unsere autonom errichteten Unterkünfte muss­ten wir abbauen." Begründet wurden die Maßnahmen nicht, bald mussten die staatlichen Stellen jedoch einsehen, dass sie der Masse an Hilfsbedürftigen nicht gewachsen waren und ließen Eigeninitiativen wieder zu.

Eine junge türkische Frau mit schulterlangem dunklen Haar und Brille istzt auf einem Plastikstuhl vor einem Tisch.

Selver Büyükkeleş vom feministischen Bündnis Lila Solidarität (Zeltlager, Serinyol, Provinz-Hatay, 2023)

Die Lila Solidarität betreut neben dem Hilfszentrum in Serinyol, das Büyükkeleş koordiniert, vier weitere Orte, in denen alleinstehende Frauen in gesonderten Zelten unterkommen können. Das ist dringend notwendig. Die staatlichen Camps nehmen nur Familien auf. "Das führt jedoch dazu, dass Frauen, die eigentlich von ihren Männern getrennt lebten, nun gezwungenermaßen auf engs­tem Raum wieder mit ihnen zusammenwohnen", erklärt Büyükkeleş. "Eine Frau kam zu uns, weil ihr Mann, von dem sie sich gerade scheiden lässt, sie mit Wasser aus einem Teekessel verbrüht hatte. Der bestritt das natürlich und behauptete, sie habe das selbst gemacht. Sie berichtete uns, er bedrohe sie mit dem Tode, wenn sie die Scheidung nicht zurückziehe. Wir haben sie jetzt evakuiert und in einer anderen Provinz untergebracht. Ihre beiden Kinder musste sie bei den Schwiegereltern zurücklassen."

Eine Recherche in einem staatlichen Camp verweigerte der Gouverneur von Hatay mit der Begründung, dies würde die Bewohner*innen stören. Büyükkeleş erkennt darin ein Muster: "Niemand soll hinter die Kulissen blicken. Denn zunächst gab es in dem Camp nicht einmal getrennte Duschen. Dies führte dazu, dass die Frauen sie nicht benutzten, weil sie sich vor sexuellen Belästigungen fürchteten."

Neben Büyükkeleş sitzt eine junge Frau und malt ein Bild: eine Sonnenblume in knallgelben Farben. Filiz R. ist 22 Jahre alt und studiert an der Mustafa Kemal Universität in Hatay Kunst auf Lehramt. Ihre langen Haare hat sie zu einem Knoten gebunden, den ein Zeichenstift fixiert. Sie betreut Malgruppen für Kinder. Das Zeichnen ist derzeit aber auch für sie selbst eine hilfreiche Beschäftigung, um der in Trümmern liegenden Wirklichkeit Farbe zu verleihen. In Kahramanmaraş, dem Epizentrum des Bebens, erzählt die junge Frau, erschoss ein Lehrer, der seine Frau und zwei Kinder verloren hatte, seine zwölfjährige Tochter und dann sich selbst. "Ich kann Verzweiflung verstehen, auch Selbstmordgedanken. Aber warum musste er das Kind töten?" Psycholog*innen sprechen in solchen Fällen von erweitertem Suizid. Doch die Terminologie fasst die unmenschlichen Realitäten im Erdbebengebiet nicht.

* Namen der Familienmitglieder geändert.

Sabine Küper-Büsch ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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