Amnesty Journal Polen 18. Januar 2021

Gehen oder bleiben?

Eine junge Frau mit langem blonden Haar sitzt vor einer bunt bemalten Wand.

"Es gibt noch andere Menschen, die so sind wie ich": Maja Heban in Warschau, November 2020

Die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) in Polen ist katastrophal, vor allem transgeschlechtliche Menschen haben es schwer. Wenn sie ihren Personenstand ändern wollen, müssen sie die eigenen Eltern verklagen.

Aus Warschau und Krakau von Lisa Kuner und Elias Dehnen (Text) und Grzegorz Żukowski (Fotos)

Maja Heban war 17, als ihr klar wurde, dass sie ­transgeschlechtlich ist. Sie wuchs im konservativen Südosten Polens auf dem Land auf und hatte noch nie etwas von verschiedenen Genderidentitäten gehört. Erst als sie im Schulunterricht einen Aufklärungsfilm sah, in dem transgeschlechtliche Menschen vorkamen, merkte sie: "Es gibt noch andere Menschen, die so sind wie ich".

Für die heute 30-jährige war dieser Film ein großes Glück, denn an polnischen Schulen gehört Sexualaufklärung nicht zum normalen Unterrichtsstoff. Schon vorher hatte Heban gefühlt, dass sie eine Frau ist. In der Schule litt sie unter Mobbing, weil sie anders war, als von ihr erwartet wurde, und hatte depressive Phasen. Der Film machte ihr deutlich, dass sie eine ­Veränderung brauchte, eine Transition, wie sie es nennt. Damit würde ihr Leben zwar zunächst schwerer, doch würde sich wenigstens eine Perspektive eröffnen.

Die Situation in Polen ist für die gesamte LGBTI-Community angespannt. Sie hat sich seit 2015 noch einmal verschlechtert, denn rechtskonservative Politiker_innen sowie Vertreter_innen der katholischen Kirche setzen seither bewusst auf Hetze als politische Strategie. Präsident Andrzej Duda sagte im Juni, LGBTI seien "keine Menschen, sondern eine Ideologie".

Transgeschlechtliche Menschen trifft der Hass besonders. Nach einer Studie verschiedener LGBTI-Organisationen haben fast 80 Prozent von ihnen in den vergangenen zwei Jahren Gewalt wegen ihrer Geschlechtsidentität erlebt. "Transgeschlechtliche Menschen kämpfen, um diese harte Zeit zu überleben", sagt Emilia Wiśnieska von der NGO Trans-Fuzja. "Und wir fürchten, dass es noch schlimmer wird."

Outing vor der Familie

Wit Kania steht noch am Anfang seiner Transition. Der 25-jährige Psychologe lebt in Krakau und arbeitet in der Aidshilfe. Er brauchte lange, um sich über seine Geschlechtsidentität klarzuwerden. "Schon als kleines Kind konnte ich mich nicht als Mädchen identifizieren", sagt er. Inzwischen weiß er, dass er ein schwuler Mann ist, der in einem Frauenkörper steckt. Bald möchte er mit einer Hormontherapie beginnen. Davor will er sich einer großen Herausforderung stellen: Sich vor seiner Familie outen. "Ich versuche, den Mut dazu zu finden", sagt Kania.

Auch für Maja Heban war das Outing vor ihrer Familie als Jugendliche nicht einfach. Ihre Mutter war überfordert, nachdem Heban ihr sagte, sie sei eine Frau. Lange wurde das Thema dann einfach totgeschwiegen. "Das Warten hat mich innerlich fast umgebracht", erinnert sie sich. Heban ritzte sich, begann, Pillen zu horten. Irgendwann lenkte Hebans Familie ein, und sie machte den ersten Termin beim Arzt.

Jemand muss dafür kämpfen, dass es der nächsten ­Generation besser geht.

Maja
Heban

In Polen gibt es keine verbindlichen, medizinischen Richtlinien dafür, wie man mit der Transition von transgeschlechtlichen Menschen umgehen kann. Nur wenige Ärzt_innen haben sich auf ihre Behandlung spezialisiert, sie sind vor allem in größeren Städten wie Warschau und Krakau zu finden. Einer von ­ihnen ist Bartosz Grabski, der Leiter der Abteilung für Sexologie am Universitätsklinikum in Krakau. Im Laufe der Jahre hat er sich als Spezialist für die psychologische und medizinische Begleitung von transgeschlechtlichen Menschen einen Namen gemacht. "Transgeschlechtliche Menschen sind in Polen schwierigen Bedingungen ausgesetzt, die sie zu einer der vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft machen", stellt Grabski fest. "Oft haben sie auch nicht dieselbe politische Öffentlichkeit wie Schwule oder Lesben, werden unsichtbar gemacht."

Die Mehrheit seiner Patient_innen sucht Unterstützung beim bevorstehenden Transitionsprozess. Grabski hat bereits unzählige medizinische Gutachten verfasst, die transgeschlechtliche Menschen vor Gericht benötigen, um ihr Geschlecht auch auf dem Papier anpassen zu können. Das ist möglich, auch wenn es in Polen kein Gesetz gibt, dass das regelt.

Veto des Präsidenten

Seit Jahren wird eine Gesetzeslücke im Zivilgesetz 189 ausgenutzt. Transgeschlechtliche Menschen müssen dabei ihre Eltern verklagen, weil diese ihnen – so die Logik der Rechtsprechung – nach der Geburt das falsche Geschlecht zugewiesen hätten. Dies sei eine enorme Belastung, sagt Maja Heban: "Du musst praktisch dein ganzes Leben offenlegen." Sie ist diesen Schritt vor acht Jahren gegangen. Damals hatte sie bereits die volle Unterstützung ihrer Eltern. Andere haben weniger Glück: "Es gibt Fälle, in denen die Eltern die legale Geschlechtsanpassung verhindern oder verzögern", sagt Julia Kata von Trans-Fuzja. Die NGO hatte zusammen mit der transgeschlechtlichen Parlamentsabgeordneten Anna Grodzka einen Gesetzentwurf erarbeitet, der die rechtliche Situation verbessern sollte. 2015 stimmte das Parlament dem Vorhaben zu – das Gesetz trat jedoch nie in Kraft, weil Präsident Andrzej Duda als eine seiner ersten Amtshandlungen ein Veto dagegen einlegte.

Für die nähere Zukunft gebe es wenig Hoffnung, dass sich die rechtliche Situation verbessere, sagt Kata: "Sogar die aktuelle Gesetzeslücke könnte noch geschlossen werden." Problematisch sei auch, dass sich verheiratete Paare vor einer legalen Geschlechtsanpassung scheiden lassen müssen, denn gleichgeschlechtliche Ehen gibt es im polnischen Recht nicht.

Besonders schwer haben es nicht-binäre Menschen, also solche, die nicht ins Frau-Mann-Schema passen. Sie würden von Gerichten meist nicht ernst genommen, und viele Ärzt_innen wüssten nicht, wie sie sie behandeln sollten, berichtet Emilia ­Wiśnieska von Trans-Fuzja. Viel Aufmerksamkeit erfuhr im Sommer 2020 der Fall der nicht-binären LGBTI-Aktivistin Margot. Die Polizei nahm sie in Warschau fest und warf ihr vor, sie habe Denkmäler mit Regenbogenflaggen verziert und ein Fahrzeug von Abtreibungsgegner_innen der homofeindlichen Stiftung "Für das Recht zum Leben" beschädigt. Nach der Festnahme Margots kam es in Warschau zu Auseinandersetzungen zwischen LGBTI-Aktivist_innen und der Polizei, bei denen weitere Protestierende inhaftiert wurden. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, kritisierte die Festnahme und forderte die sofortige Freilassung der Aktivistin. Sie musste jedoch drei Wochen in Untersuchungshaft verbringen – in einem Männergefängnis. Einige polnische Medien verwendeten in der Berichterstattung wiederholt Margots nach der Geburt vergebenen, aber inzwischen abgelegten, männlichen Namen.

Suizidalität und Depressionen

In seiner Klinik beobachtet Grabski, wie hart die verbalen Angriffe Rechtskonservativer aus Politik und Kirchen seine Patient_innen treffen: "Sie leiden und haben Angst vor körperlichen Angriffen und sozialer Ablehnung, wenn sie mit solch menschenverachtenden Aussagen konfrontiert werden."

Eine Tendenz, die auch Julia Kata von Trans-Fuzja wahrnimmt: "Die Nachfrage nach unseren Beratungsangeboten steigt", sagt sie. Vor allem jüngere Menschen kämpften häufig mit mentalen Erkrankungen. Wegen der Corona-Pandemie sei es jedoch schwierig, allen Anfragen gerecht zu werden. Nach einer Studie mehrerer LGBTI-Organisationen haben mehr als 70 Prozent der transgeschlechtlichen Menschen in Polen Suizidgedanken, und eine Mehrheit leidet unter Depressionen.

Ein junger Mann in schwarzem Mantel mit Schal steht vor einer Mauer, die mit Graffiti besprüht ist.

Sieht für sich in Polen keine Zukunft: Wit Kania in Krakau, November 2020

"Bevor ich an die Uni kam, hatte ich nie das Gefühl, dass es Raum gab, um über meine Trans-Identität zu sprechen", sagt Wit Kania. Richtig schwierig wurde es für ihn in der Pubertät, als sein Körper immer sichtbarer weiblich wurde. Er wurde magersüchtig, seine Eltern schickten ihn zu einer Psychologin – aber nicht einmal dort traute er sich, anzusprechen, dass er keine Frau war. Inzwischen wissen seine Freund_innen in Krakau ­Bescheid über seine Geschlechtsidentität.

Schon die erste Diagnose bereitet transgeschlechtlichen Menschen Probleme. Eine Behandlung über die Krankenkasse kann nur dann beantragt werden, wenn die Diagnosen F64.0 (Transsexualismus) oder F64.8 (sonstige Störungen der Geschlechtsidentität) festgestellt werden. Diese Diagnosen seien jedoch problematisch, betont Grabski, da Transsexualität als psychische Störung festgeschrieben werde. Die hormonelle Behandlung wird häufig nicht von der Krankenkasse bezahlt. "Trans-Frauen bekommen Östrogene verschrieben, wobei nur einige erstattet werden – und dies auch nur für die Diagnose F64.0. Trans-Männern wird üblicherweise Testosteron verschrieben, was ebenfalls nicht von der Krankenkasse übernommen wird", sagt Grabski.

Selbst wenn die Krankenkasse zahlt – die Kostenübernahme ist mit viel Bürokratie und langen Wartezeiten verbunden. Viele transgeschlechtliche Menschen tragen die Kosten selbst, weil sie schnelle Hilfe brauchen. "Für meine Transition haben meine Großeltern bezahlt", erzählt Heban. "Allein hätte ich mir das als Studentin gar nicht leisten können."

Die Kosten summieren sich – allein die Operation des Oberkörpers koste häufig mehr als 4.000 Euro, erklärt Kata. Einige transgeschlechtliche Personen starteten Fundraising-Aktionen, um die Kosten ihrer Behandlung zu decken. Trans-Fuzja versucht ebenfalls, Hilfsmittel bereitzustellen und zu unterstützen.

Fortschritte an der Universität

Nicht immer wird die Behandlung von vertrauenswürdigen Expert_innen vorgenommen. Als Maja Heban Anfang der 2000er-Jahre mit ihrer Transition anfing, gab es nur wenige Ärzt_innen, die sich auf transgeschlechtliche Menschen spezialisiert hatten, im Raum Krakau nur einen Spezialisten. Zwar fühlte sie sich dort grundsätzlich gut behandelt, der Arzt machte aber immer wieder Fotos von ihrem nackten Körper und sprach sie nach der Operation plötzlich mit ihrem alten Namen an. Auch der Sexologe Grabski, weiß, dass nicht alle Ärzt_innen transgeschlechtliche Menschen ideal behandeln: "Einige Methoden haben schon lange ausgedient, etwa Fragen nach dem Masturbationsverhalten oder die Forderung, dass man vor einer körperlichen Transition erst eine langjährige Psychotherapie durchlaufen muss."

Der Mediziner beobachtet dennoch einen Mentalitätswechsel in seinem Fachbereich: "Wir von der Polnischen Sexologischen Gesellschaft haben Empfehlungen für die Behandlung von Menschen mit Genderdysphorie veröffentlicht, die sich an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Danach richten sich nun viele Kolleginnen und Kollegen."

"Wettbewerb, wer sich am homophobsten äußert"

Emilia Wiśnieska von Trans-Fuzja hat wenig Hoffnung, dass sich die Situation in Polen bald verbessert. Die NGO betrieb in Warschau bis 2016 eine Schutzunterkunft für Menschen, die nicht länger in ihren Familien leben konnten. Diese wieder zu eröffnen, sei nötiger denn je – aber das Geld dafür fehlt. Sie wünscht sich mehr Unterstützung aus dem Ausland und EU-Sanktionen gegen die polnische Regierung.

Maja Heban lebt heute in Warschau. Inzwischen geht sie ­offen damit um, dass sie transgeschlechtlich ist. Als Aktivistin macht sie im Netz regelmäßig auf die Probleme der Trans-Community im Land aufmerksam: "Ich habe das Gefühl, es gibt einen Wettbewerb, wer sich am homophobsten äußert." Trotz aller Probleme sieht sie auch Verbesserungen: Seit Ende September können Studierende an der Universität Krakau selbstständig ihren Namen im System anpassen. Heban musste vor zehn Jahren noch jede Professorin und jeden Professor einzeln bitten, ­ihren Namen in den Listen zu ändern. Einer weigerte sich zunächst. "Jetzt würde das nicht mehr passieren."

Wit Kania hat inzwischen weitgehend resigniert. Nach intensiven Jahren des Aktivismus sieht er seine Zukunft nicht mehr in Polen und will das Land verlassen. Maja Heban versteht das – die persönliche Gesundheit müsse vorgehen. Doch sie möchte bleiben: "Jemand muss dafür kämpfen, dass es der nächsten ­Generation besser geht."

Die Recherchereise für diese Reportage wurde von der ­Heinrich-Böll-Stiftung (www.boell.de) unterstützt. Lisa Kuner und Elias Dehnen (Text) und Grzegorz Żukowski (Fotos) sind freie Journalisten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Ein Interview mit Amnesty International Polen zum Protest gegen eine ­Gesetzesverschärfung zu Schwangerschaftsabbrüchen finden Sie hier.

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