Amnesty Journal Niederlande 04. Dezember 2017

Zeugnis ablegen

Portraitbild einer Frau

Nadia Murad wurde von Kämpfern des Islamischen Staats verschleppt und versklavt. Heute kämpft die Jesidin dafür, dass die Dschihadisten vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.

Von Manuela Reimann Graf

Sie hat die Hölle überlebt. Sie wurde von den Kämpfern des Islamischen Staats (IS) verschleppt, versklavt und vergewaltigt – oft mehrmals täglich. Doch Nadia Murad hat dies nicht gebrochen. Seit sie aus der Gefangenschaft fliehen konnte, engagiert sich die 24-jährige, zerbrechlich wirkende Jesidin unermüdlich für die Freilassung der Frauen, die weiterhin in den Händen des IS sind. Und sie will die Täter vor Gericht bringen.

Seit September 2016 wird Nadia Murad in ihrem juristischen Kampf von der prominenten Anwältin Amal Clooney unterstützt, was dem Anliegen der beiden mehr Gehör verschafft. Die Frauen wurden wegen ihres Engagements auch schon von IS-Anhängern bedroht. Dennoch arbeiten Murad und Clooney ­weiter darauf hin, dass eine internationale Ermittlung zu den Verbrechen des IS gestartet werden kann, damit genügend ­Beweismaterial gesammelt und an den Internationalen Straf­gerichtshof geschickt wird. Zeuginnen und Zeugen müssten ­befragt, Massengräber gesucht und geöffnet werden.

Da weder der Irak noch Syrien das Römische Statut unterschrieben haben, könnte das Gericht in Den Haag nur mit einem Auftrag des UN-Sicherheitsrats Untersuchungen beginnen. Doch lange passierte von dieser Seite her nichts. Murad und Clooney lobbyierten weiter, reisten von Staatschef zu Premierministerin. Es gelang ihnen, die britische Regierung ins Boot zu holen. Diese drängte darauf, dass die irakische Regierung selbst um eine internationale Untersuchungskommission ersucht. Schließlich lenkte Bagdad ein und bat um internationale Hilfe für die notwendigen Untersuchungen.

Bis dahin war es ein langer Weg. Im Dezember 2015, nur ein Jahr nach ihrer Flucht aus der Gefangenschaft, trat die junge ­Jesidin erstmals vor den UN-Sicherheitsrat und erzählte von ­ihrem Leidensweg. Wie mit dem Hissen der schwarzen Flagge des IS auf den Häusern der irakischen Stadt Sindschar und der umliegenden Dörfer im August 2014 das große Morden begann. Wie ihr Dorf Kocho überfallen, ihre Mutter, sechs Brüder und weitere Familienmitglieder getötet wurden. Sie musste zusehen, wie andere Jungen – darunter ihre Neffen – entführt wurden, um zu Kindersoldaten für den IS gemacht zu werden.

Die Dschihadisten verschleppten Nadia Murad gemeinsam mit 150 weiteren Mädchen und Frauen. Drei Monate lang wurde sie sexuell missbraucht, nach einem Fluchtversuch bestraft, gefoltert. Sie erzählt, wie sie schließlich mithilfe einer muslimischen Familie fliehen konnte, in ein Flüchtlingslager gelangte und dank eines baden-württembergischen Schutzprogramms gemeinsam mit einer ihrer Schwester nach Deutschland kam.

Dort hätte ein neues Leben beginnen sollen, in Sicherheit – begleitet von Therapien, um das Geschehene zu verarbeiten. Doch Nadia Murad entschied sich für einen anderen Weg: Sie wollte Zeugnis ablegen. Seither hat Nadia Murad ihre Geschichte Dutzende Male erzählt. Mithilfe der Nichtregierungsorganisation Yazda, die sich für überlebende Jesiden und die Rechte dieser Minderheit einsetzt, reist sie von Land zu Land, von Staatsoberhaupt zu Staatsoberhaupt. Ihre große Angst sei es, so Nadia Murad, "dass die IS-Kämpfer, wenn die Miliz einmal besiegt ist, einfach ihre Bärte abrasieren und durch die Straßen der Städte gehen, als sei nichts gewesen".

Das sagte sie im September 2016 in ihrer Dankesrede, als sie von Generalsekretär Ban Ki-moon zur ersten UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel ernannt wurde. Kurz darauf erhielt sie den Václav-Havel-Menschenrechtspreis und den Sacharow-Preis; auch für den Friedensnobelpreis war sie 2017 nominiert.

Immer wieder spricht Murad detailliert über das Erlebte und die Schandtaten, die sie mit ansehen musste, obwohl es ihr sichtlich schwerfällt. Sie macht es, obwohl in ihrer Kultur das Erlebte mit Tabus und Scham belegt ist. Aber sie will der Welt erzählen, was den Frauen angetan wurde. Berichten über den Völkermord, der an ihrem Volk begangen wurde. Sie will, dass das Morden aufhört und gesühnt wird. Nadia Murad ist überzeugt, dass möglichst viele Jesidinnen und Jesiden von den erlebten Gräueln sprechen sollten, damit die Welt davon Kenntnis nimmt.

Dem IS ging es bei der Verschleppung und Versklavung von rund 5.000 jesidischen Frauen und Mädchen nie nur darum, die Kämpfer mit den "Trophäen des Sieges" zu belohnen, so Murad. Dieser Völkermord hatte im August 2014 mit der Eroberung der Stadt Sindschar durch den IS im Irak begonnen. Tausende Jesiden und Jesidinnen wurden damals getötet. Die Anhänger dieser uralten, monotheistischen Religion werden vom IS als ungläubige Teufelsanbeter angesehen. Die Führer der Dschihadisten machten denn auch aus ihrer Absicht, die Jesiden ausrotten zu wollen, nie einen Hehl.

Aber auch drei Jahre nach dem Mord an den Jesidinnen und Jesiden im Sindschar-Gebirge ist das Grauen noch nicht vorbei. Tausende Männer und Jungen werden weiter vermisst, bis zur Rückeroberung Raqqas und Mossuls im Sommer befanden sich mehr als 3.000 Frauen in den Händen der Terrororganisation. Trotz der Verpflichtung der Weltgemeinschaft, solche Taten zu verhindern, werde der Genozid praktisch nicht thematisiert, kritisiert die UN-Ermittlungskommission für Syrien.

Ende September dann der erste große Erfolg der beiden unermüdlich arbeitenden Frauen: Die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats nahmen einstimmig die von Großbritannien eingebrachte Resolution 2379 an, die eine Untersuchung der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verlangt, die vom Islamischen Staat begangen worden sind – darunter auch diejenigen an den Jesidinnen und Jesiden.

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