Amnesty Journal Mali 10. März 2023

Patronen gehen, Worte bleiben

Ein schwarzer Mann und ein schwarzer Junge stehen nebeneinander vor einer Tür und gesitkulieren mit ihren Händen.

"Wir kämpfen für die Meinungsfreiheit!" – Rapper Amkoullel mit Nachwuchs auf dem Festi HipHop

Sprechgesang als demokratische Kraft: Die malische Jugend vertraut Rapper*innen mehr als Politiker*innen.

Von Jonathan Fischer (Text und Fotos)

"Die Gerontokratie ist immer noch an den Hebeln der Macht", ruft Master Soumy durch den altehrwürdigen Kolonialbau des Palais de la Culture in Bamako. "Aber ihr könnt sagen, was ihr von Mali erwartet. Und HipHop ist euer Lautsprecher." Gut hundert Rap­per*innen und HipHop-Aktivist*innen sind aus allen Teilen des Landes zum Festi HipHop, dem größten malischen Rap-Festival, in die Hauptstadt gereist. Die Chance auf Ruhm beflügelt sie, ein Auftritt vor Hunderttausenden Jugendlichen, aber eben auch die Chance, mit Master Soumy zu arbeiten. Wer außer ihm kann schon ein ganzes Fußballstadion mit Tracks über Polizeiwillkür und Korruption zum Kochen bringen? Wem könnten sie mehr vertrauen als seiner wöchentlichen gerappten Nachrichtensendung "Kunafoni", in der er Politik aus Sicht der Jugend betrachtet?

Forderungen an Regierung rappen

HipHop-Stars sind in dem Land mit 70 Prozent Analphabet*innen einflussreiche Meinungsmacher*innen. Ihre Reime haben eine größere Reichweite als jede Zeitung, jede politische Erklärung. Auch deshalb hat Master Soumy, Initiator des Festi HipHop, den Bühnenauftritten ein politisches "Selbstfindungscamp" vorgeschaltet: "Einfach zu rappen 'Wir wollen Frieden', reicht nicht", beschwört er die Jungen im Palais de la Culture. "Oder habt ihr den irgendwo zu kaufen gesehen?" Gelächter. Vielmehr sollten die HipHop-Aktivist*innen nach den Ursachen des Unfriedens suchen – und konkrete Forderungen an die Regierung stellen. In den folgenden Tagen wolle man in Workshops über Menschenrechte und speziell Frauenrechte diskutieren.

Zwei Drittel der Bevölkerung Malis sind unter 20 Jahre alt. Und keine Musik findet unter den Jungen mehr Rückhalt als HipHop. Von den Rapper*innen wird erwartet, mehr zu bieten als Unterhaltung. Sie sollen Orientierung geben in der Krise, die 2012 begann, als bewaffnete dschihadistische Gruppen den Norden Malis besetzten. Zwar wurden ein Jahr später die großen Städte mit Hilfe französischer Militärs befreit und im Rahmen einer Friedensmission der Vereinten Nationen (MINUSMA) internationale Truppen stationiert, darunter auch Soldat*innen der Bundeswehr. Doch die Sicherheitslage ist immer noch prekär. Weite Landstriche sind der Kontrolle der Regierung entglitten. Mali gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Der Klimawandel wie auch die Folgen von zwei Staatsstreichen seit 2020 haben die wirtschaftliche Krise noch verstärkt. Hinzu kommen ein Mangel an Perspektiven für die Jugend und zunehmende Repressionen gegenüber kritischen ­öffentlichen Meinungsäußerungen.

Punchlines im Stuhlkreis

"Wir kämpfen für die Meinungsfreiheit", ruft die malische Rap-Legende Amkoullel, der im traditionellen Boubou auf die Bühne tritt. "Denn wir sind die Mehrheit." Zustimmendes Raunen. Als er von den Dorfbewohner*innen im Zentrum Malis spricht, die kurz zuvor von Dschihadisten massakriert wurden, mischt sich ein scharfer Unterton in seinen sanften Singsang: "Warum verbieten die Dschihadisten die Musik? Weil sie deren Macht kennen. Weil es die Musik schafft, uns zu vereinen, uns stark zu machen."

Im großen Saal des Kulturpalastes haben die Rapper einen Stuhlkreis gebildet. Der DJ wirft zum Warmwerden einen einfachen Beat in die Runde – und jeder gibt der Reihe nach ein paar Punchlines zum Besten. Die lyrischen Figuren auf Französisch, Bamana, Songhay und Peul lassen die ethnische Vielfalt des Landes erahnen. Und immer wieder geht es um das "Wir". Um eine Geschichte, die vor tausend Jahren mit den berühmten Bibliotheken von Timbuktu anfing, um den Stolz auf die ­eigene Kultur. "Wir haben in Mali einige der ältesten Universitäten der Welt gegründet", sagt Amkoullel. "Was hindert uns daran, unser Wissen heute zu teilen wie damals, der Welt ein Beispiel zu sein?" Es ist auffällig, wie viele der Rapper*innen – neben Standard-Insignien wie Baseball-Käppis und Turnschuhen – sich in traditionellen Kleidungsstücken präsentieren.

Das Magazin einer Kalaschnikow enthält 30 Patronen. Irgendwann ist es leer geschossen. Aber Wörter und Sätze haben mehr Gewicht. Eine Punch­line bleibt dir im Gedächtnis.

F20
Life
Rapper

"Die Jugendlichen glauben uns eher als den Verlautbarungen eines Ministers", erklärt Master Soumy. Der schlaksige Typ mit den Rastazöpfen hat Jura studiert, ist Rechtsanwalt und der bekannteste Polit-Rapper des Landes. So sehr ihn die Jugend verehrt, so sehr fürchtet die regierende Elite seine scharfe Zunge. Der Zerfall der malischen Gesellschaft ist seiner Ansicht nach nicht religiösen Konflikten geschuldet, sondern mangelnder Gerechtigkeit: "Der Dschihadismus ist nur ein Deckmantel. Letztlich geht es um Weidegründe und Ackerland – und einen Staat, der die Grundbedürfnisse seiner Bürger wie das Recht auf medizinische Versorgung, Schulbildung, sauberes Trinkwasser oder Sicherheit nicht erfüllt."

Regierungsposten abgelehnt

Vor fünf Jahren mobilisierte der Rapper mit der von ihm angeführten Bewegung "An Té A Bana" (Rührt unsere Verfassung nicht an) Tausende Jugendliche für Demonstrationen gegen eine Verfassungsänderung, die dem damaligen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta größere Machtbefugnisse eingeräumt hätte. Der Präsident nahm daraufhin seinen Vorstoß zurück und bot Master Soumy einen Regierungsposten an. Der Rapper lehnte ab: "Ich habe schon öfter solche Angebote erhalten, zuletzt von der Übergangsregierung. Aber wenn ich sie annähme, verlöre ich meine Glaubwürdigkeit bei meinen Fans."

Ein Mann mit Mütze sitzt auf einem trockenen Baumstamm in einer Strohhütte.

Master Soumy (rechts) ist Rechtsanwalt und Malis bekanntester Politrapper.

Tal B ist eine der wenigen Rapperinnen im Saal. Die zierliche 19-Jährige ist zwei Tage lang mit dem Bus aus Mopti in Zentral-Mali angereist. In ihrer Heimat­region könne sie kaum noch auftreten, sagt sie. Das Reisen in die Dörfer, in denen sie früher bei Hochzeiten und Familienfeiern rappte, sei wegen dschihadistischer Überfälle zu gefährlich geworden. Selbst von ihrer Familie bekomme sie kaum Unterstützung: "Alle unterstellen dir, dass du trinkst, Drogen nimmst, ein leichtes Mädchen bist." Aber deshalb aufgeben? Nein, sie denke nicht daran, sagt die gelernte Schneiderin. Nur mit ihrer Musik könne sie eine bessere Welt erschaffen. Was sie sich für die Zukunft erhofft? "Dass wir Malier wieder als eine Familie zusammenfinden."

Auch der Rapper F20 Life kommt aus einer Region, in der junge Menschen kaum eine Wahl haben: Viele seiner Nachbarn in Gao hätten sich aus wirtschaftlicher Not einer Regierungsmiliz oder den Dschihadisten angeschlossen, erzählt der schmale Junge mit den harten Gesichtszügen. Arbeit hätten die wenigsten, und auf den Staat sei kein Verlass. "Eine Minute für alle Brüder, die gefallen sind", rappt F20 Life auf der Bühne des Festi Hip­Hop – und Tausende hören ihm so ­gebannt zu wie sonst nur der Freitags­predigt des örtlichen Imams. Als Mitglied einer Bürgermiliz hat der junge Malier den Krieg am eigenen Leib erfahren. "Alles, was ich sage, habe ich auch erlebt", ruft er ins Mikro. "Aber Rap hat mich ­gerettet." Auf dem letzten Festi HipHop hatte F20 Life unter Jubelstürmen erklärt, er werde nicht mehr mit der Waffe kämpfen, sondern nur noch mit dem Mikrofon. "Das Magazin einer Kalaschnikow enthält 30 Patronen", predigt er und lässt seine Zunge rhythmisch schnalzen. "Irgendwann ist es leer geschossen. Aber Wörter und Sätze haben mehr Gewicht. Eine Punch­line bleibt dir im Gedächtnis."

Jonathan Fischer ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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