Amnesty Journal 21. August 2023

Was ist politische Haft?

Iranische Polizisten auf Motorrädern in den Straßen Teherans, sie tragen Helme und Protektoren, manche von ihnen Schlagstöcke.

Was genau bezeichnen wir mit politischer Haft? Und was unterscheidet sie von rechtmäßigen Inhaftierungen? Der Sozialwissenschaftler Christoph Steinert analysiert die Hintergründe des Begriffs und die langfristigen Folgen seiner Praxis.

von Christoph Steinert

Die Gründung von Amnesty International ist eng verknüpft mit dem Einsatz für gewaltlose politische Gefangene. Der englische Rechtsanwalt Peter Benenson veröffentlichte im Jahr 1961 in der britischen Zeitung The Observer einen Artikel, in dem er die Leser*innen dazu aufrief, sich für die Befreiung von gewaltlosen politischen Gefangenen in der Salazar-Diktatur in Portugal einzusetzen. Die aus diesem Aufruf entstandene Aktion "Appeal for Amnesty" gilt als der Anfang von Amnesty International. Bis heute ist politische Haft ein weit verbreitetes Instrument der Repression gegen Andersdenkende und Minderheiten geblieben. Mit dem Briefmarathon, den Briefen gegen das Vergessen, Eil- und Appellaktionen sowie mit Petitionen setzt sich Amnesty immer noch für gewaltlose politische Gefangene ein.

Woran aber erkennt man politische Haft, und was unterscheidet politische Gefangene von rechtmäßig inhaftierten Straftätern? Inhaftierungen gelten innerhalb eng definierter Grenzen als ein legitimes Instrument des Strafrechts. Kaum jemand würde behaupten, dass die Inhaftierung des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Somit unterscheiden sich Inhaftierungen von anderen Formen staatlicher Repression wie Folter, die immer als Menschenrechtsverletzung anzusehen ist.

Im Falle von Inhaftierungen ist es notwendig, die Gründe und Umstände des Freiheitsentzugs genauer zu betrachten. Entscheidend für die Beurteilung, ob jemand ein politischer Gefangener ist, sind die Handlungen des Staates und nicht des oder der Gefangenen. Das heißt, dass man ein politischer Gefangener sein kann, ohne selbst politisch motiviert ­gehandelt zu haben.

Die relevante Frage für die Beurteilung von politischer Haft ist nach Angaben der UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen, ob der Staat mit der Inhaftierung gegen fundamentale Menschenrechte verstoßen hat. Haftstrafen verletzen die Prozessrechte eines Gefangenen, wenn kein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen Gericht stattfindet. Ein solcher Verstoß liegt zum Beispiel im Fall von Sulaimon Olufemi in Saudi-Arabien vor, der während seines Verhörs gefoltert wurde und keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand hatte. Prozessrechte werden ebenfalls verletzt, wenn jemand über längere Zeit ohne Anklage oder richterliches ­Urteil festgehalten wird. Außerdem können Menschenrechte durch den Inhalt eines Hafturteils verletzt werden, wie im Fall von mehreren indonesischen Männern, die im Jahr 2020 ausschließlich wegen ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert wurden. Sämtliche Haftstrafen, die Menschen ­aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, sexueller Orientierung, religiöser Überzeugung, gewaltloser politischer Ideologie oder ethnischer Zugehörigkeit diskriminieren, sind als politische Haft zu betrachten.

Sämtliche Haftstrafen, die Menschen ­aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, sexueller Orientierung, religiöser Überzeugung, gewaltloser politischer Ideologie oder ethnischer Zugehörigkeit diskriminieren, sind als politische Haft zu betrachten.

Für legitime Inhaftierungen ist es nicht ausreichend, dass eine Haftstrafe auf Grundlage nationaler Gesetze "rechtmäßig" ist. Häufig verstoßen nationale Gesetze in Diktaturen gegen die Menschenrechte. Zum Beispiel verletzt das thailändische Gesetz gegen Majestäts­beleidigung, wonach jede kritische Äußerung über das Königshaus zu einer Haftstrafe führen kann, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Inhaftierungen müssen immer im Lichte international gültiger Menschenrechtsprinzipien beurteilt werden. Sie sind ausschließlich dann als legitim zu betrachten, wenn sie in einem fairen und öffentlichen Verfahren von einem unabhängigen und unpartei-ischen Gericht verhängt wurden und die Menschenrechte achten. In allen anderen Fällen spricht man von politischer Haft, und Amnesty International setzt sich für eine unverzügliche Freilassung dieser ­politischen Gefangenen ein.

Autokratische Regierungen verfolgen mit politischen Inhaftierungen meist das Ziel, Oppositionelle zum Schweigen zu bringen und somit potenzielle Gefahren für ihre Herrschaft zu eliminieren. Außerdem sollen politische Inhaftierungen eine abschreckende Wirkung entfalten und die gesamte Bevölkerung disziplinieren. So versucht zum Beispiel das autokratische Regime in Iran seit Monaten, die Protestbewegung durch Masseninhaftierungen von Regierungskritiker*innen unter Kontrolle zu bekommen.

Langfristige Folgen von politischer Haft

Neue Forschungsergebnisse legen nahe, dass politische Inhaftierungen für autokratische Regierungen langfristig destabilisierend wirken können. Die Ergebnisse beruhen auf umfassenden statistischen Analysen zu politischer Haft in der ehemaligen DDR, worüber dank der Stasi-Archive hochwertige Daten vorliegen. Die empirischen Analysen zeigen, dass ostdeutsche Bürger*innen in denjenigen Regionen des Landes früher und in größerem Umfang gegen das SED-Regime protestierten, in denen ein größerer Anteil der Bevölkerung Opfer von politischer Haft geworden war.

Die langfristig destabilisierenden Folgen von politischer Haft lassen sich sowohl durch direkte Auswirkungen auf die politischen Gefangenen als auch durch indirekte Auswirkungen auf den Rest der Bevölkerung erklären. Politische Haft begünstigt das Entstehen oppositioneller Netzwerke, da politische Gefangene in Haftanstalten oft mit anderen Dissiden-t*innen in direkten Kontakt kommen. So galt zum Beispiel das Gefängnis Robben Island in Südafrika als Brutstätte der Oppositionsbewegung gegen die Apart­heid.

Politische Haft verleiht Führungsfiguren der Opposition zudem eine besondere Legitimität, da sie ihre Bereitschaft signalisieren, selbst unter hohen persönlichen Kosten für ihre Ideale einzustehen. Historische Beispiele wie Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Aung San Suu Kyi oder Václav Havel zeigen, dass ehemalige politische Gefangene oft eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen autokratische Regime einnehmen. Außerdem erzeugen politische Inhaftierungen Wut und Empörung im restlichen Teil der Bevölkerung. Angetrieben vom Ziel, politische Gefangene aus der Haft zu befreien, mobilisieren sich Oppositionsbewegungen oft in direkter Reaktion auf politisch motivierte Inhaftierungen.

Im Falle der ehemaligen DDR trugen die Proteste gegen politische Haft zum Ende des SED-Regimes bei. Proteste gegen politische Haft finden auch heute in zahlreichen autokratischen Staaten wie Belarus oder Iran statt. Es bleibt eine offene Frage, inwieweit und unter welchen Umständen diese Proteste zu Regimewechseln führen. Die Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass politische Haft nicht nur eine menschenverachtende, sondern langfristig auch eine kontraproduktive Strategie für Diktaturen ist. Von Teheran bis Minsk scheitern auto­kratische Staaten bei dem Versuch, unliebsame Ideen hinter Gitter einzusperren und säen dabei ungewollt selbst den Keim des Widerstands gegen ihre eigene Herrschaft.

Dr. Christoph Valentin ­Steinert hat zum Thema ­politische Haft an der Universität Mannheim promoviert. Er forscht als Post­doctoral Fellow an der ­Universität St. Gallen zu menschenrechtlichen Beschwerdemechanismen der Vereinten Nationen und untersucht die Ursachen und Folgen von Menschenrechtsverletzungen in autokratischen Staaten. Seit 2010 ist er Amnesty-Mitglied.

Weitere Artikel