Amnesty Journal 29. Oktober 2021

Nun muss radikal gehandelt werden

In einer Seifenblase, die in der Luft hängt, spiegelt sich das Brandenburger Tor.

Perspektivwechsel gefordert: Klimademo in Berlin, September 2020.

Regierungen haben über Jahrzehnte hinweg versäumt, die Klimakrise zu bekämpfen. Ein Plädoyer für eine andere Perspektive.

Von Lisa Nowag und Jakob Nehls

Die Bilder der überfluteten Gebiete im Westen Deutschlands haben sich längst ins kollektive Bewusstsein dieser Republik gebrannt. Im Juli kamen in den Überflutungsgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mehr als 180 Menschen ums Leben, viele mussten ihre Häuser verlassen und haben ihr gesamtes Hab und Gut ­verloren.

Es wird voraussichtlich viele Jahre dauern, bis die Gebäude und die Infrastruktur in den betroffenen Gebieten wieder aufgebaut sein werden. Während das zerstörerische Ausmaß der Katastrophe Gegenstand unzähliger Diskussionen ist, wird das Offensichtliche nur selten benannt: Leben, Wohnen, Wasser und soziale Sicherheit sind grundlegende Menschenrechte.

Die extremen Schäden und Verluste in den Flutgebieten stehen exemplarisch dafür, dass die Zunahme derartiger Extremwetterereignissen auf der ganzen Welt mit der voranschreitenden Klimakrise in Verbindung steht. Ihre Auswirkungen werden nun auch in Europa immer stärker spürbar. Trotz der wissenschaftlichen Faktenlage wurden solche Ereignisse bislang oft als "Naturkatastrophen" angesehen, anstatt mit der Klimakrise in Verbindung gebracht zu werden.

Die Betroffenen wurden somit zu reinen Unglücksopfern – ein Bild, dem widersprochen werden muss:

Weil Regierungen und Entscheider_innen über Jahrzehnte hinweg versäumt haben, die Klimakrise wirksam zu bekämpfen und die unvermeidbaren Folgen bestmöglich abzufedern, ist das vermeintliche ­Unglück eine schiere Ungerechtigkeit.

Mit Blick auf die zerstörten Häuser und das mangelnde Trinkwasser las man von Grundbedürfnissen, die nicht mehr gewährleistet werden konnten. Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit: Denn eine angemessene Unterkunft und der Zugang zu sauberem Wasser sind mehr als nur Grundbedürfnisse, es sind Menschenrechte. Wer ein Bedürfnis hat, benötigt etwas. Wer ein Recht hat, hat einen Anspruch darauf. Das ist ein fundamentaler Unterschied!

Aus den bedrohten Menschenrechten ergeben sich so auch Pflichten. Im Kontext der Klimakrise sind all diejenigen in der Pflicht, die an den politischen und wirtschaftlichen Schalthebeln sitzen. Deren Beweggründe für Klimaschutz sind, wenn überhaupt, häufig ökonomischer Natur. Das Klima müsse geschützt werden, weil es sich rechnet: Die Schäden in der Zukunft verursachten höhere Kosten als ein effektiver Klimaschutz in der Gegenwart.

Begreift man die Klimakrise als Menschenrechtskrise, ist das Argument ein anderes: Weil die Klimakrise die Rechte von Millionen Menschen radikal bedroht, sind Regierungen und Konzerne schlicht verpflichtet, radikal zu handeln.

Die überfluteten Gebiete in Deutschland sind nur ein kleiner Teil der weltweiten Klimakrise, in der die gravierende Bedrohung für die Menschenrechte immer deutlicher erkennbar wird. Wir sollten diesen Zusammenhang klar benennen, um mit den Menschenrechten und ihrer Kraft wirksam gegen die Klimakrise und ihre Verursacher_innen vorzugehen.

Lisa Nowag und Jakob Nehls sind in der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Klimakrise und Menschenrechte aktiv.

HINTERGRUND

Klimakrise statt Klimawandel

Wenn wir über die menschenrechtliche Bedrohung eines anthropogenen Klimawandels sprechen und Staaten zu ­einer menschenrechtsorientierten Klimapolitik auffordern, verwenden wir den Begriff Klimakrise und sprechen explizit nicht von einem "Klimawandel". Eine Krise erfordert zeitnahes, durchschlagkräftiges Handeln – sie zeigt auf, wie notwendig eine grundlegende Systemtransformation ist. Passende Begriffe sind wichtig und unterstützen den Kampf für Gerechtigkeit.



Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Klimakrise und Menschenrechte

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