Amnesty Journal Chile 24. Januar 2022

"Indigene Rechte und viel mehr"

Eine junge Frau in der traditionellen Kleidung der chilenischen Mapuche hält ihre rechte Hand zur Faust geballt nach oben.

Natividad Llanquileo Pilquimán ist Rechtsanwältin und gehört den Mapuche an, der größten indigenen Gemeinschaft Chiles.

Die chilenische Regierung hat über den Süden des Landes, wo viele Angehörige der Mapuche leben, den Ausnahmezustand verhängt. Für Besserung könnte eine neue Verfassung sorgen, an deren Entstehung die Menschenrechtsaktivistin Natividad Llanquileo Pilquimán beteiligt ist. Ein Gespräch über zu wenig Land, zu viel Polizei und eine große Hoffnung.

Interview: Elias Dehnen

Im Oktober verhängte der chilenische Präsident Sebastián Piñera über vier südliche Provinzen den Ausnahme­zustand. Welche Folgen hat das für die vielen indigenen Mapuche-Gemeinden?

Wir sehen uns schon länger mit einer erhöhten Präsenz von Sondereinheiten der Polizei konfrontiert. Neben schwer bewaffneter Polizei ist nun auch das Militär im Süden präsent. Im November wurden zwei Mapuche-Aktivist_innen getötet. Es ist kein Zufall, dass dies in den Gebieten passiert ist, in denen wir Land zurück­fordern. Piñera verteidigt die Interessen der Holzindustrie. Einige der Forstunternehmen gehören den reichsten Familien Chiles. Ihre Expansionspläne zu fördern, scheint wichtiger zu sein, als die Menschenrechte zu schützen. Gerade für Kinder und Jugendliche hat die erhöhte Polizei- und Militärpräsenz traumatische Folgen. Viele Eltern berichten, dass ihre Kinder unter Schlafstörungen leiden. Immer wieder kommt es zu willkürlichen Personenkontrollen und Festnahmen. Derzeit befinden sich mehr als 40 indigene Menschenrechtsaktivist_innen in Haft. Menschenrechtsorganisationen haben festgestellt, dass Angehörige der Mapuche unverhältnismäßig lange in Untersuchungshaft gehalten werden.

Wie konnte der Konflikt derart ­eskalieren?

Es ist der chilenische Staat, der den Konflikt mit den Mapuche sucht. Als zuerst Spanien – ohne Erfolg – und später Chile unser Gebiet kolonisieren wollte, sprach man von einer "Befriedung" oder "Zivilisierung" der südlichen Gebiete. Dieses Narrativ geistert noch immer durch die Köpfe vieler Chilen_innen. Doch das Gegenteil war der Fall: Stück für Stück wurde uns Land weggenommen. Viele Angehörige indigener Bevölkerungen wurden dadurch systematisch in die ­Armut gedrängt. Die politische Elite hat Chile immer als einheitlichen Staat dargestellt, es hieß: "Hier gibt es keine indigenen Völker." Die Mapuche wurden als Relikt der Vergangenheit betrachtet, in der Schule besprach man höchstens unsere Folklore – Kleidung, Spiele und Musikinstrumente. Chile wollte sich als moderner Staat präsentieren, und wir waren ­dabei ein Hindernis. Bis heute hat die ­chilenische Gesellschaft ihren Rassis­mus gegenüber den Indigenen nicht über­wunden.

Weshalb sind alle politischen Versuche, den Konflikt beizulegen, bisher gescheitert?

Es gab viele Treffen zwischen Angehörigen der Mapuche und Vertreter_innen der jeweiligen Regierungen. Doch Abkommen wurden immer wieder missachtet. Dabei verfügt die Regierung über alle Ressourcen, um die Forderungen der Indigenen nach Landrückgabe zu erfüllen. Was fehlt, ist politischer Wille. Die staatliche Institution Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (CONADI) ist dafür zuständig, ursprüngliche Territorien der Mapuche zu kaufen und den indigenen Gemeinschaften zurückzugeben. Das ist eine gute Idee, doch im Jahr 2020 ließ die CONADI öffentliche Gelder ungenutzt, weil es der Institution wegen der Corona-Einschränkungen nicht gelang, ihrem Mandat nachzukommen.

Bis heute hat die ­chilenische Gesellschaft ihren Rassis­mus gegenüber den Indigenen nicht über­wunden.

Natividad
Llanquileo Pilquimán
chilenische Menschenrechtsaktivistin

Gemeinsam mit 155 anderen gewählten Repräsentant_innen erarbeiten Sie derzeit einen Entwurf für eine neue chilenische Verfassung. Ein Grund zur Hoffnung?

Wir sind optimistisch, müssen aber auch realistisch bleiben. Um einen Prozess der Teilhabe zu garantieren, sind die fünf bis acht Monate, die uns noch bleiben, sehr kurz. Wir wollen das Beste daraus machen. Chile hat 2008 das Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker (ILO 169) ratifiziert. Dort ist ein Menschenrechtskatalog aufgeführt, auf den wir uns berufen können, etwa wenn es um Land- und Eigentumsansprüche geht. Wir starten also nicht bei Null. Viele Politiker_innen wollten bisher nichts davon wissen, das könnte sich mit der neuen Verfassung ändern. Wir wollen unsere Rechte jetzt auch effektiv geltend machen. Dafür muss definiert werden, welche Mechanismen und Gerichte die Einhaltung unserer Selbstbestimmungsrechte zukünftig sicherstellen.

Welche Erfahrungen haben Sie bisher in der Verfassunggebenden Versammlung gemacht?

Es ist ein harter Prozess. Zehn indigene Gruppen mit insgesamt 17 Vertreter_innen haben dort eine Stimme. Sieben davon sind Mapuche, jeweils mit heterogenen Positionen. Niemand von uns kann eine alleinige Repräsentation beanspruchen. Dazu kommt, dass uns einige Wege, zu politischen Vereinbarungen zu kommen – etwa durch Hinterzimmergespräche – befremden. Doch wir sehen auch positive Entwicklungen. Viele Menschen, die an der Erarbeitung der neuen Verfassung mitwirken, kommen aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen: Angefangen von Lehrern und Anwältinnen über Hausfrauen bis hin zu Sozialarbeitern sind viele neu in der Politik und bringen frischen Wind herein. Kein politischer Block in der Versammlung hat eine Mehrheit, weshalb man auf uns zugehen muss. Nur eine kleine Gruppe von Erzkonservativen möchte die jetzige Verfassung behalten und blockiert, wo sie nur kann. Und konservative Medien versuchen, die öffentliche Meinung über die Verfassunggebende Versammlung negativ zu beeinflussen.

Eine Frau steht vor einer Gruppe von Polizisten mit Helmen und hält ein Tuch in die Höhe, um sich vor spritzendem Wasser zu schützen.

Polizeieinsatz mit Wasserwerfern bei einer Demonstration in Santiago de Chile (Archivaufnahme)

Was sind Ihre Hauptforderungen?

Chile muss ein multinationaler Staat ­werden. Das heißt, dass wir Indigene rechtlich anerkannt werden. Es geht uns nicht nur um kulturelle und sprachliche Aspekte, sondern auch um unsere Gebietsansprüche. Denn eine Nation ohne eigenes Territorium ist keine Nation. Nur so können wir ein Leben nach unseren Traditionen führen. Wir wollen unser Recht auf Selbstbestimmung effektiv wahrnehmen.

Wie sähe das konkret aus?

Wir werden bestimmen, welchen Bildungsweg unsere Kinder durchlaufen und welches Gesundheits- und Rechtssystem wir entwickeln. Zentral ist auch, dass wir im Einklang mit der Umwelt leben wollen. Es wird diskutiert, ob der Natur wie in anderen südamerikanischen Verfassungen eigene Rechte zugesprochen werden. Für uns ist maßgebend, dass unsere Lebensgrundlagen nicht weiter zerstört werden. Ein konkretes Beispiel sind die Pinien- und Eukalyptusplantagen. Wer sie gesehen hat, wird wissen, wovon ich spreche: Alles rundherum stirbt ab, die Vegetation geht ein, das Wasser verschwindet, und es herrscht Dürre. Doch die Forstunternehmen behaupten, sie würden den Regionen Fortschritt und ­Arbeitsplätze bringen. Dabei sind die ­Arbeitsbedingungen oft schlecht und die Arbeitsprozesse stark technologisiert, sodass nur wenige und prekäre Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir sollten nicht vergessen, dass wir uns in einem Klima­notstand befinden. Wenn die Menschen die Natur weiter ausbeuten wie bisher, werden wir alle die Auswirkungen der Krise immer stärker zu spüren bekommen. Es geht also um viel mehr als den Schutz indigener Rechte.

Natividad Llanquileo ­Pilquimán, geboren 1984, ist Rechtsanwältin und gehört den Mapuche an, der größten indigenen Gemeinschaft Chiles. Als Menschenrechtsaktivistin ist sie Teil der ­Verfassunggebenden Versammlung, die bis Mitte 2022 eine neue chilenische Verfassung erarbeitet.

Elias Dehnen ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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