Amnesty Journal Bolivien 04. Dezember 2017

Stadt der brennenden Diebe

Tatiana Llanos vor dem Gerichtsgebäude in El Alto

Berufswunsch Staatsanwältin. Tatiana Llanos.

In bolivianischen Städten nehmen Bewohner das Recht selbst in die Hände – mangelnde Polizeipräsenz gilt als einer der Hauptgründe für die Lynchjustiz.

Von Knut Henkel, El Alto (Text und Fotos)

Eine mannshohe graue Puppe hängt am Strommast neben der Casa de la Solidaridad in El Alto. Um den Hals baumelt ein Schild mit der Aufschrift: "Ladrón pillado será quemado". Die Drohung, jeden ertappten Dieb zu verbrennen, "ist durchaus ernst gemeint", betont Federico Chipana. Der Leiter und Gründer des Kulturzentrums in Boliviens zweitgrößter Stadt will Jugendliche eigentlich zu weniger Gewalt erziehen. Nicht ganz einfach in der rauen Realität El Altos, der inzwischen zweitgrößten Stadt Boliviens.

"Hier wird jeder Fremde argwöhnisch beobachtet. Die Leute haben Angst um ihr Eigentum, denn Einbrüche sind häufig, die Polizei taucht hier fast nie auf", schildert Chipana die Verhältnisse im Problemviertel Villa Paulina, dem achten Distrikt von El Alto. Hierhin ziehen viele der Neuankömmlinge, die in der am schnellsten wachsenden Kommune des Andenstaats ihr Glück suchen. Erst vor 32 Jahren wurde El Alto auf dem Hoch­plateau über der Hauptstadt La Paz gegründet – und hat längst die Eine-Million-Einwohner-Marke überschritten.

Zu wenig Polizei und Richter, korrupte Polizisten und Richter. Nicht nur in Bolivien, auch in anderen Staaten Lateinamerikas ist das Vertrauen in das eigene Rechtssystem geschwunden: Guatemala, Venezuela oder Mexiko gelten auch als Hochburgen der Selbstjustiz. Bürgerwehren oder spontan zusammengekommene Meuten nutzen hier die rechtsfreien Zonen, die der Staat hinterlassen hat.

Laut der Ombudsstelle für Menschenrechte wurden 2014 landesweit 35 Fälle von brutaler Selbstjustiz mit insgesamt zehn Toten registriert. 2015 waren es 32 Fälle, darunter fünf Tote. ­Aktuellere Zahlen gibt es nicht. Experten wie der bolivianische ­Soziologe Jorge Derpic gehen davon aus, dass die Dunkelziffer der Lynchmorde deutlich höher liegt als die offiziell registrierten Fälle. Er hält die mangelhafte Polizeipräsenz in einigen ­Regionen Boliviens für die Hauptursache der Lynchjustiz.

Vier von zehn Bolivianern halten inzwischen laut Umfragen Selbstjustiz für angebracht. Die Befürworter berufen sich dabei auch auf die unter dem linken Präsidenten Evo Morales erlassene neue Verfassung, die die Anwendung von "Justicia Comunitaria" (Gemeinschaftsjustiz) erlaubt. Traditioneller indigener Rechtsprechung und damit der Schlichtung von Konflikten auf lokaler Ebene sollte so mehr Raum gegeben werden. "Das Ahnden von Kapitaldelikten gehört aber nicht dazu", sagt Nelson Cox, Ombudsmann für Menschenrechte in Cochabamba, der viertgrößten Stadt Boliviens. Cox warnt vor einem Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit: "Die Justiz hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Da nehmen die Leute das Recht in die eigenen Hände". Das Problem: Der Staat sage nicht deutlich genug Nein zur Selbstjustiz.

Die Straßen bestehen in Villa Paulina aus Schotter, die Strommasten sind noch neu, viele Grundstücke spärlich bebaut. "Hier arbeiten die Neuankömmlinge verbissen an ihrer Zukunft und verteidigen, was sie haben", sagt der Leiter des Kulturzentrums Chipana. In seiner Casa treffen sich Jugendliche, um ­Theater zu spielen oder um zu diskutieren. Oder die Nachbarn kommen hier zusammen, um Probleme im Stadtteil zu beratschlagen.

Davon gibt es reichlich. Gewalt ist eines – in den Familien, aber auch auf der Straße. Das ist das zentrale Thema in einem Theaterstück, das die Jugendlichen selbst geschrieben haben und nun in Schulen aufführen. Das Stück handelt von der Perspektivlosigkeit der nachwachsenden Generation und von der Gewalt in der Familie, vor allem gegen Frauen – auch die Lynchmorde spielen eine Rolle.

In der Arbeiterstadt El Alto gibt es besonders viele Fälle: ­Neben eine der Puppen mit den eindringlichen Warnungen hat in Villa Paulina jemand "Von Nachbarn überwachte Zone" auf eine Backsteinwand geschrieben. "Vor allem in den armen Neubauvierteln wie Villa Paulina oder dem benachbarten San Luis de San Roque spielen die Leute heute selber Polizei. Da wird patrouilliert, verdächtigt, verurteilt und gemordet", sagt Chipana und deutet auf eine verblichene Tageszeitung, die an einer Stellwand hängt. Der Fall eines von einer aufgebrachten Menge zusammengeschlagenen und mit Benzin übergossenen Mannes aus dem benachbarten San Luis de San Roque wird da­rin detailliert beschrieben.

Federico Chipana kennt auch aus Villa Paulina viele dieser Vorkommnisse. Besonders schockiert hat ihn aber der Fall von Carlos Llano. "Mein Bruder wurde im März 2016 in San Luis de San Roque sieben Stunden lang von einer aufgebrachten Menschenmenge geschlagen, gewürgt und schließlich angezündet", sagt Tatiana Llano mit brüchiger Stimme. Die 25-Jährige gilt in El Alto als aktive Kämpferin gegen die Lynchjustiz. Viele Details der Ermordung ihres Bruders hat sie recherchiert. Und sich dabei weder von Drohungen noch von Geldangeboten abhalten lassen, Gerechtigkeit einzuklagen. "Ich will nicht, dass mein Bruder als Dieb, der aufgeknüpft wurde, in Erinnerung bleibt. Davon gibt es schon zu viele", sagt sie mit einer Mischung aus Trauer und Entschlossenheit.

An einem Dienstagmittag hatte ihr 32-jähriger Bruder das Haus seiner Eltern in Villa Horizonte verlassen. Zwei, vielleicht drei Stunden später erreichte der schmächtige Mann San Luis de San Roque. Einer Nachbarin fiel der unter Schizophrenie leidende Carlos Llano auf. Mit lauten Rufen "Ein Dieb, ein Dieb, fangt die Ratte" habe sie die Nachbarschaft alarmiert, worauf sich mehr als ein Dutzend Personen auf die Jagd nach Carlos Llano machten. Schließlich stolperte er und fiel so der Menge in die Hände. "Es gab überhaupt keinen Grund, ihn als Dieb zu verdächtigen", betont seine Schwester.

Sie hat anhand von Gesprächen mit Zeugen, Polizei und Staatsanwaltschaft den Ablauf der Geschehnisse rekonstruiert. Die Leiche konnte sie nur noch anhand von Turnschuhen und Hosen identifizieren. Ein Bein und ein Arm seien, so Tatiana ­Llanos, von Hunden bis auf die Knochen abgenagt gewesen.

Bilder, die die junge Juristin nicht vergessen kann. Gegen fünfzehn potenzielle Täter wird derzeit ermittelt. Tatiana Llanos glaubt, dass das nur passierte, weil sie bei Polizei und Staatsanwalt immer wieder nachgehakt hat. Dort gibt es wenig Personal. Die Folgen: Die Aufklärungsquote bei Verbrechen ist niedrig. Und: Polizei wie Justiz genießen wenig Glaubwürdigkeit.

Im Fall Carlos Llanos kommt hinzu, dass die Polizisten im Viertel mit Schweigen konfrontiert wurden. Niemand wollte ­etwas gesehen haben. Einige Nachbarn stritten sogar ab, dass es einen Toten gegeben habe, berichtet die Zeitung La Razón. Zwei Tage nach dem Kollektivmord entdeckten die Beamten Gräben und Erdwälle auf der Straße, die den Zugang zum Tatort versperrten. Kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren im ­ganzen Land kaum einer der Lynchmorde aufgeklärt wurde. ­Erschwerend kommt hinzu, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Ruf stehen, die Hand aufzuhalten.

Mehr Polizisten wünscht sich auch Tatiana Llanos: "Gesetze werden nicht durchgesetzt, weil die Polizei abseits der städtischen Zentren kaum vorhanden ist", sagt sie und klagt, "die ­Justiz ist von Korruption durchdrungen". Das will Llanos nun ändern. Ihr Berufswunsch: Staatsanwältin.

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