Amnesty Journal Bolivien 01. Januar 2020

"Bringt Feuerlöscher, bitte!"

Ein schwarzhaariger Mann mittleren Alters mit Brille und Schnauzbart spricht in ein Mikrofon und hebt dabei seine linke Faust

1998 erhielt der Bolivianer Waldo Albarracín den ­Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Nun setzte er sich an vorderster Front für ein Ende der Präsidentschaft von Evo Morales ein.

Von Thomas Schmid

Der Hilferuf kam über Facebook. "Man brennt mein Haus in Cota Cota nieder. Ich bitte um Hilfe, bitte bringt Feuerlöscher in die 34. Straße." Cota Cota ist ein Stadtteil von La Paz, der Verwaltungshauptstadt von Bolivien, und in der 34. Straße wohnt, nein: wohnte, muss man nun sagen, Waldo Albarracín, der Rektor der Universidad Mayor de San Andrés, der ältesten, bereits 1830 gegründeten Universität des Landes. Das in meterhohen Flammen stehende zweistöckige Haus des 62-jährigen Professors kann man auf einem YouTube-Filmchen sehen. Man hört verzweifelte Schreie. Weder Feuerwehr noch Polizei schreiten ein.

Der Brand brach am Sonntag, den 10. November, um neun Uhr abends aus. Drei Stunden zuvor hatte Präsident Evo Morales seinen Rücktritt verkündet, zu dem ihm der Armeechef "geraten" hatte, was nur eine verblümte Aufforderung war. Anhänger des gestürzten Präsidenten errichteten umgehend Barrikaden, setzten Busse in Brand.

Albarracín ist ein Wissenschaftler. Aber bekannter ist er in Bolivien als ein Mann, der sich seit Jahrzehnten an vorderster Front für Bürger- und Menschenrechte einsetzt. Von 1988 bis 1993 gehörte er einem Komitee an, das sich zum Ziel setzte, einen Prozess gegen Luis García Meza durchzusetzen, den wohl schrecklichsten der zahlreichen Militärdiktatoren der jüngeren Geschichte des Landes. García Meza, der zwar nur ein Jahr nach seinem Putsch die Macht 1981 wieder abgeben musste, hatte sich 1987 ins Ausland abgesetzt und wurde 1993 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. 1994 wurde er in Brasilien aufgespürt und im Folgejahr an Bolivien ausgeliefert, wo er im vergangenen Jahr starb.

1992 bis 2003 war Albarracín Präsident der Asamblea Permanente de Derechos Humanos de Bolivia (APDHB), der bekanntesten Menschenrechtsvereinigung des Landes. In jenem Jahrzehnt fand auch das "Weihnachtsmassaker" statt: Zwei Tage vor Heilig­abend starben 1996 bei der polizeilichen Räumung von zwei ­besetzten Goldminen in der Provinz Potosí elf Menschen. Die APDHB recherchierte hartnäckig, ohne viel Erfolg – aber mit der Folge, dass im Januar 1997 Albarracín auf dem Weg zur Universität entführt wurde. "Acht Männer in Zivilkleidung zerrten ihn aus dem Fahrzeug", berichtete Amnesty International damals, "mit verbundenen Augen wurde er an einen unbekannten Ort geführt, wo er während mehrerer Stunden auf Kopf, Ohren und Hoden geschlagen wurde. Man drohte ihm, ihn zu töten." Schließlich wurde der Entführte ins Hauptquartier der Kriminalpolizei gebracht, die ihn mit gebrochenen Rippen ins Polizeikrankenhaus überwies.

In den 1990er Jahren setzte sich Albarracín für politische ­Gefangene ein und für politische Flüchtlinge, die in Bolivien Schutz suchten, aber auch für Kokapflanzer, die sich gegen die Zerstörung ihrer Plantagen durch die Antidrogenpolizei wehrten. Für sein langjähriges Engagement für Bürger- und Menschenrechte wurde er 1998 in Frankfurt am Main mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International Deutschland ausgezeichnet. 2003 bis 2008 war Albarracín als Ombudsman gemäß der Verfassung dafür zuständig, die Menschenrechte und die Rechte der indigenen Gemeinschaften gegenüber den staatlichen Institutionen zu verteidigen. Seit 2013 ist er Rektor der Universidad Mayor de San Andrés.

Albarracín gehört zu den bekanntesten Vertretern der Zivilgesellschaft in Bolivien. Dass sein Haus am 10. November lichterloh brannte, war aber weniger eine Antwort auf sein menschenrechtliches als auf sein politisches Engagement. Schon drei Wochen vor den dramatischen Ereignissen, die Evo Morales ins mexikanische Exil trieben, hatte Albarracín für Schlagzeilen gesorgt. Nachdem ihn eine Tränengasgranate getroffen hatte, stand er mit einer ­großen Platzwunde an der Stirn, blutüberlaufenem Gesicht und blutdurchtränktem Hemd vor einer Fernsehkamera.

Am Vortag, dem 20. Oktober, hatte Bolivien gewählt. Evo ­Morales, seit Januar 2006 an der Macht, der erste Präsident ­Boliviens, der nicht der weißen Oberschicht, sondern als Abkömmling einer Aymara-Familie der indigenen Unterschicht entstammt, wollte ein viertes Mandat antreten. Die unter seiner Regierung verabschiedete Verfassung erlaubt zwar nur zwei Mandate hintereinander. Ein drittes hatte ihm das Verfassungsgericht jedoch zugestanden, weil er das erste noch aufgrund der alten Verfassung angetreten hatte. 2017 billigte das Verfassungsgericht ihm verfassungswidrig ein viertes Mandat zu – mit der merkwürdigen Begründung, dass die Beschränkung der Anzahl von Mandaten die "politischen Rechte" von Evo Morales unzulässig beschneide. Die Opposition sprach von Putsch. Soweit zur Vorgeschichte der umstrittenen Wahl vom 20. Oktober.

Am Wahltag selbst geschah dann Seltsames: Nach Auszählung von 83,8 Prozent der Stimmen lag Morales mit 45,3 Prozent vor Carlos Mesa, dem Zweitplatzierten, der nur 38,2 Prozent erreichte. Aber dann wurden – angeblich auf Grund technischer Schwierigkeiten – mehr als 23 Stunden lang keine weiteren Ergebnisse verkündet, bis das Wahlgericht am 21. Oktober vor die Presse trat und bekannt gab, nach Auszählung von 95,30 Prozent der Stimmen hätten 46,86 Prozent für Morales und 36,72 Prozent für Mesa gestimmt. Der Vorsprung betrug demnach 10,14 Prozent. Wären es unter zehn Prozent geworden, ­worauf zunächst alles hinwies, hätte laut Wahlgesetz eine Stichwahl stattfinden müssen – und die hätte Mesa vermutlich gewonnen.

Die Opposition sprach sofort von Wahlbetrug. Albarracín, nicht nur Universitätsrektor, sondern auch Präsident des Nationalen Komitees zur Verteidigung der Demokratie Boliviens (CONADE), einer zivilgesellschaftlichen Organisation, forderte umgehend ein neues Wahlgericht und Neuwahlen. Er rief zu Massenprotesten auf, die sich ausweiteten und den Armeechef schließlich bewogen, Morales zum Rücktritt zu "raten". Der ­Präsident, den Albarracín in jüngster Zeit immer wieder als "Diktator" bezeichnet hatte, trat den Weg ins Exil an. Nicht nur seine Anhänger sprechen von einem Staatsstreich.

Ein klassischer Putsch war es nicht. Weder wurde der Notstand ausgerufen, noch das Parlament aufgelöst, noch eine ­Pressezensur eingeführt, und es kam auch zu keinen Massenfestnahmen. Und doch riecht es sehr nach Putsch. Jeanine Áñez, die – bei Absenz des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses (alle hatten sich abgesetzt) – verfassungsgemäß bis zu Neuwahlen Präsidentin wurde, ernannte zu ihrem Innenminister Arturo Murillo, der sogleich versprach, seinen abgetauchten Vorgänger im Amt zu "jagen". Der Armee stellte Áñez einen Freibrief aus, der internationales Aufsehen erregte. Sie unterzeichnete ein Dekret, wonach Militärs "für Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung" strafrechtlich nicht belangt werden können. Die revanchistischen Kräfte der weißen Oberschicht, die die Präsidentschaft von Morales, dem Mann aus der Unterschicht, immer nur als Unfall in der Geschichte Boliviens begriffen haben, greifen nach der Macht.

Das Parlament hat sich – mit den Stimmen der Partei von Morales – zwar nun auf Neuwahlen geeinigt, an denen Morales, der fast 14 Jahre lang Präsident war, nicht mehr teilnehmen darf. Doch die Situation in Bolivien ist weiterhin explosiv. Die Fronten sind verhärtet, und so forderte der Menschenrechtler Waldo Albarracín die Interimspräsidentin auf, die Bolivianer zur Versöhnung aufzurufen, denn "ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt ist möglich".

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