Amnesty Journal 01. November 2019

"Meine Generation hat eine Aktivismus-Explosion durchlebt"

Junge Menschen, manche halten Plakate in die Höhe

Demonstration der Fridays-for-Future-Bewegung im Juni in Aachen.

Wer freitags auf die Straße geht, ist Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsaktivist zugleich. Und die Last darf nicht allein auf den Schultern der Jugend liegen.

Von Jakob Nehls von der Amnesty-Jugendvertretung

Meine Generation hat im vergangenen Jahr eine Aktivismus-Explosion durchlebt. Jede Stimme, die jungen Menschen politisches Desinteresse vorwarf, ist spätestens seit den freitäglichen Klima­streiks verstummt. Millionen junge Menschen sind wütend auf eine Politik, die wissenschaftliche Fakten seit Jahrzehnten ignoriert und uns damit an den Rand einer existenzbedrohenden Krise gebracht hat. Vielen reicht es nicht, die Schule zu bestreiken, um gegen die Untätigkeit der politischen Entscheidungs­träger zu kämpfen. Sie rebellieren, blockieren, besetzen – weil sie Angst um ihre Zukunft haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Generation empathisch und solidarisch ist, dass sie all die Ungerechtigkeiten dieser Welt nur schwer ertragen kann und nicht hinnehmen will.

Im Januar 2018 richtete eine türkische Militäroffensive im nordsyrischen Afrin fürchterliches Leid an. Ich erinnere mich an Bilder von verletzten, weinenden und schreienden Menschen. Und an die Bilder von deutschen Leopard-Panzern, die daran beteiligt waren. Das löste unglaubliche Wut in mir aus. In einigen deutschen Städten gab es Demonstrationen, meist organisiert von kurdischen Gruppen. Ich schloss mich an, es erschienen ein paar Artikel in Zeitungen, doch nach kurzer Zeit wurden die Schlagzeilen von den nächsten Ereignissen überlagert. Und das Töten mit deutschen Waffen ging und geht weiter.

Es ist frustrierend, wenn Protest gegen Unsägliches erst untergeht und schließlich versiegt. Bei den Klimastreiks ist das anders. Wenn Tausende aus Protest der Schule fernbleiben, kann man sie nicht ignorieren. Greta Thunberg hat einen Kanal geschaffen, der es uns ermöglicht, unserem Unmut Ausdruck zu verleihen. Wir haben gelernt, dass wir mehr sind als Konsumenten. Von politischen Rechten wirksam Gebrauch zu machen, ist aber gar nicht so einfach, wenn es kein einladendes Format gibt. Aber das gibt es jetzt. Die Klimakrise ist kein Nischenphänomen, das wenige Öko-Hippies betrifft. Sie ist allumfassend und wirkt in jeden Lebensbereich und in jedes Politikfeld hinein. Wir stehen vor einer Vielzahl von menschenrechtlichen Herausforderungen: Autoritäre Systeme werden immer populärer, Globalisierungsprozesse rauben Menschen ihre Lebensgrundlage, und Bürgerkriege zwingen Menschen zur Flucht.

Die Klimakrise hat Auswirkungen auf all diese Krisen. Sie befeuert Konflikte, fördert Ungleichheit und gefährdet fundamentale Menschenrechte für Milliarden von Menschen. Wer freitags auf die Straße geht ist Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsaktivist zugleich. Niemand kann sich dem Problem entziehen. Mit politisch subventionierten destruktiven Lebensstilen wird die systematische Zerstörung unserer Ökosysteme vorangetrieben. So sind fast ausnahmslos alle in irgendeiner Art und Weise Teil des Problems – manche mehr und andere weniger.

Wer kein Fleisch isst, bezieht vielleicht trotzdem Kohlestrom. Wer kein Auto fährt, mag das gesparte Geld für die nächste Flugreise ausgeben. Wer gebrauchte Kleidung kauft, nutzt unter Umständen eine alte Ölheizung. Die Erkenntnis, dass die Politik Verantwortung jahrzehntelang an Privatpersonen abgegeben hat und sich somit selbst in die organisierte Verantwortungslosigkeit manövrierte, treibt Menschen auf die Straße. Die Menschheit rettet man nicht in Bioläden, sondern dort, wo die großen Entscheidungen getroffen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen festgelegt werden. Es ist Zeit, dass die Verantwortlichen endlich verantwortungsvolle Politik machen.

Wir können uns auch nicht aus der Krise herausnehmen, weil sie global und bis in den letzten Winkel dieses Planeten spürbar ist. Wer die furchtbaren Bilder aus Afrin sah, konnte weiterzappen und sagen: Nordsyrien ist weit weg. Bei der Klimakrise funktioniert das nicht. Sie trifft uns alle, jetzt oder zukünftig. Politiker suggerieren gerne das Gegenteil. Es ist fatal, dass sie beinahe gebetsmühlenartig versichern, das Problem im Griff zu haben. Die Wahrheit ist: Sie haben es nicht. Alle seriösen Prognosen deuten darauf hin, dass die in Paris festgelegte Erd­erwärmungsgrenze von zwei Grad oder noch besser 1,5 Grad derzeit so gut wie unerreichbar ist. Wir steuern auf die größte Menschenrechtskatastrophe des 21. Jahrhunderts zu. Ganze Landstriche werden schlicht unbewohnbar sein, öde Wüsten die Erde überziehen und Ökosysteme kollabieren. Das wird Fluchtbewegungen auslösen, die Nahrungsmittelsicherheit gefährden und Trinkwasserressourcen knapp werden lassen. Klimaprognosen lesen sich wie Science-Fiction-Romane, sie basieren aber auf einer wissenschaftlichen Grundlage.

Nahezu alle Menschen sind davon betroffen. Dennoch ist ­natürlich wahr, dass die Folgen der Krise extrem unfair verteilt sind. Jene, die am wenigsten dazu beitragen, werden am meisten darunter leiden. Dazu zählen nicht nur Menschen im globalen Süden, sondern auch junge Menschen und zukünftige Generationen. Unsere Eltern hinterlassen uns den Planeten in einem wahrhaft desaströsen Zustand. Ich habe Bilder vom Bonner Hofgarten 1983 und der Leipziger Nikolaikirche 1989 vor meinem inneren Auge. Wie konnte es passieren, dass Menschen, die sich für das Gute einsetzten, gar eine Diktatur friedlich stürzten, vor dieser Krise verstummten? Dass es ein schwedisches Mädchen, einen Hitzesommer und bedrohte Wälder brauchte, um das ­Thema wieder auf die Agenda zu setzen – vier Jahrzehnte nach Gründung der Grünen?

Die junge Generation wird morgen mit den Folgen der politischen Entscheidungen von heute leben müssen. Um die Politik daran zu erinnern, protestieren, demonstrieren und rebellieren wir. Mahatma Gandhi hat gesagt: "Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du." Ich glaube, dass der Weg zum Gewinnen noch sehr lang sein wird.

Als junger Mensch muss man jeden Schritt zweimal gehen. Man stelle sich nur mal vor, ältere männliche Arbeitnehmer hätten seit 2018 zu Tausenden wöchentlich gestreikt – ich bin mir sicher, Kerosin wäre längst besteuert, konventionelle Landwirtschaft würde nicht mehr subventioniert und ein schneller Kohleausstieg wäre beschlossen. Deswegen ist es wichtig, dass die Last nicht allein auf den Schultern der Jungen liegt. Der Generationenbegriff löst sich auf. Zur neuen Generation gehören alle, die an unserer Seite für eine klimagerechte Welt kämpfen, in der alle Menschen die gleichen Rechte wahrnehmen können. Wir werden nicht aufhören!

Jakob Nehls (25) ist in der Jugendvertretung von Amnesty Deutschland verantwortlich für Themen- und Länderarbeit. Er studiert Menschenrechte und Politik in London.

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